Ich kenne dein Geheimnis
Zeit aber ideal. Jetzt kam ihr auch der schwarze Fiat Balilla wieder in den Sinn, mit dem ihr Vater durchs Dorf fuhr.
» Voscienza benedica
«, murmelten die Bauern ehrerbietig und nahmen den Hut vom Kopf, wenn das Auto an ihnen vorbeifuhr. Sie schloss kurz die Augen,
hielt sich das Foto unter die Nase und atmete tief ein. Ob sie nach all den Jahren den Geruch ihrer Heimat noch erahnen konnte?
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie ein blondes und ein dunkelhaariges Köpfchen aus dem Karren hervorlugen und vergaß
für einen kurzen Moment alle anderen Bilder. |263| Um Viertel nach fünf schlug Maria Manniti die Augen auf. Das Licht des frühen Morgens drang durch die Ritzen des Fensterladens,
ein schöner Tag kündigte sich an. Sie nahm eine Magenpastille aus der Schachtel und schluckte sie mit etwas Wasser hinunter.
Warum musste ich auch so viel essen?
Verärgert erinnerte sie sich an die üppige Portion Pasta alla Nonna, die ihre Köchin Ida am Vorabend aufgetischt hatte. Ihr
Lieblingsgericht, dem sie nicht widerstehen konnte. Sie hatte schlecht geschlafen und sich lange im Bett herumgewälzt. In
ihrem Kopf kreisten Gedanken und Erinnerungen, die sie schon längst verdrängt zu haben glaubte.
Mühsam quälte sie sich aus dem Bett. Ihre zerbrechlichen Knochen schmerzten. Dennoch würde sie heute nicht warten, bis Rosaly
mit dem Kaffee kam. Sie hatte zu viel zu tun.
Sie duschte, zog einen Morgenmantel über und steckte die grauen Haare hoch. Vom glänzenden Kastanienbraun, eine ehemals wunderbare
Kombination mit ihren mahagonifarbenen Augen, waren nur noch einige Strähnen an der Stirn übrig geblieben. Ihre ersten grauen
Haare hatte anfangs keiner bemerkt. Keiner außer ihr. Piddu war erst wenige Tage tot gewesen und die Nachbarn und Freunde
hatten die Veränderung gar nicht wahrgenommen. Damals hatte man sie sogar die »schwarze Witwe« genannt, ein Name, der bei
einigen aus ihrer Umgebung bis heute Bestand hatte.
»Der Mensch ist ein Gewohnheitstier«, murmelte sie und setzte sich an den Schreibtisch. Die elegante Ledermappe, die darauf
thronte, ließ sich kaum schließen, denn ihre Enkeltochter hatte ihr neues, edles Papier geschenkt. Sie benutzte allerdings
lieber den einfachen Abreißblock, um sich Notizen zu machen, so wie es Piddu früher immer gemacht hatte. Nachdem sie mit ihrem
platinbeschlagenen schwarzen Montblanc Bohème ein paar Stichpunkte notiert hatte, zerknüllte |264| sie das Blatt und warf es in den Mülleimer. Was heute auf dem Programm stand, wusste sie ganz genau, das musste sie nicht
aufschreiben. Der edle Füllfederhalter war ihr Glücksbringer, mit dem sie alle Verträge unterzeichnete. Ihr Blick fiel auf
die in rotes Leinen eingebundene Bibel neben dem Telefon. Lange hatte sie nicht mehr daran gedacht, wie sie in den Besitz
dieser kostbaren Ausgabe gekommen war. Der Priester, der ihr die Heilige Schrift geschenkt hatte, war mittlerweile ein mächtiger
Würdenträger der Kirche, doch für Maria Manniti blieb er immer der scheue junge Mann, der ihr bei einem Unfall das Leben gerettet
hatte. Während sie sich körperlich langsam wieder erholt hatte, hatte er sie zu überzeugen versucht, dass man durch die Kraft
der Vergebung auch geistig wieder genesen konnte. Ein vergebliches Unterfangen, denn die einzige Stelle, die Maria Manniti
aus der Bibel kannte, war ein Vers aus dem Lukas-Evangelium, und der sprach nicht von Vergebung:
Meint ihr, ich sei gekommen, um Frieden auf Erden zu bringen? Nein , sage ich Euch, nicht Frieden, sondern Spaltung. Denn von nun an wird es so sein. Wenn fünf Menschen im gleichen Haus leben,
wird Zwietracht herrschen. Drei werden gegen zwei stehen, und zwei gegen drei, der Vater gegen den Sohn und der Sohn gegen
den Vater …
Sie riss ein weiteres Blatt vom Block ab und schlug die Bibel an einer x-beliebigen Stelle auf. Was würde wohl der Priester
dazu sagen? Das Buch öffnete sich bei den Sprüchen des Propheten Maleachi. Sie las die erste Zeile von Vers sechs:
Ein Sohn soll den Vater ehren,
und der Knecht seinen Herren.
Mühevoll schrieb sie die Worte ab. Schreiben fiel ihr schwer, denn mit fünfzehn hatte sie die Schule verlassen und war mit
Piddu durchgebrannt. Später hatte sie nie wieder eine Schule besucht. »Mein Lehrmeister war das Leben«, sagte sie |265| immer zu ihrer Enkelin, die sie stets bewundernd ansah. Als sie mit dem Text fertig war, faltete sie das Blatt zusammen und
steckte es in
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