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Ich kenne dein Geheimnis

Titel: Ich kenne dein Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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auf dem sie einen Satz aus dem Manuskript
     ihres Urahns notiert hatte:
    Panormi. Bilinguis Infcriptio duabus Bafibus aequaliter infculpta Phoenicia five Punica effe non ambigitur sed et in quodam
     Parifino Litterario Diario interpretationem invenire poffumus.
    Ein Lateiner würde diesen Satz mühelos übersetzen können. Dann widmete sie sich den beiden nächsten Sätzen, die sie ebenfalls
     detailgenau abgeschrieben hatte. Sie waren in seltsamen Schriftzeichen abgefasst, die sie nicht kannte.

    Vielleicht könnte ihr Gerry Boschi mit seinen Kontakten weiterhelfen. Sie rief nach Bruno und bat ihn, dem Fahrer |258| Bescheid zu geben, dass sie nach Florenz fahren wollte. Marco Tonioli wohnte in einem Nebengebäude der Villa. Er war nicht
     nur ihr Fahrer, sondern seit zehn Jahren auch ihr Leibwächter, ihm vertraute sie bedingungslos. Bevor sie aufbrach, rief sie
     noch Gerry an, um sich zu vergewissern, dass er Zeit für sie hatte.
     
    Gerry und Cesco hatten eine gemeinsame Wohnung in der Via Tornabuoni. Ein extravaganter und doch harmonischer Mix aus Cescos
     Minimalismus und Gerrys Vorliebe fürs Barock. Gerry empfing seinen Gast in einem violetten samtenen Hausmantel mit magentafarbenem
     Satinrevers.
    »Wie siehst du denn aus? Willst du Flavio Briatore imitieren?«, scherzte Vivy und küsste ihn auf beide Wangen.
    »Wenn schon, dann D’Annunzio. Lass dich anschauen, meine Liebe.
Très charmante
…«
    Vivy lachte und folgte ihm ins Wohnzimmer.
    »Und jetzt heraus damit, ich sterbe vor Neugier!« Gerry bat sie, auf einem L-förmigen weißen Ledersofa Platz zu nehmen.
    »Wie? Du bietest mir nichts zu trinken an?«
    »Ach, was bin ich für ein schlechter Gastgeber! Zum Glück ist der Conte nicht da, der würde mir das nicht ungestraft durchgehen
     lassen.« Gerry schlug sich affektiert die Hand auf den Mund und machte große Augen. »Das Übliche, meine Liebe?«
    »Um diese Zeit einen Kaffee, bitte.«
    »Dein Wunsch ist mir Befehl.«
    Nach einer Weile kam Gerry zurück, ein Tablett mit zwei Tassen heißem Kaffee in der Hand. Vivy hatte unterdessen den Zettel
     mit der geheimnisvollen Nachricht aus der Tasche geholt. »Hier«, sagte sie.
    |259| Gerry setzte seine Brille auf und begann die seltsamen Zeichen zu studieren. Anfangs war er fasziniert, doch er merkte recht
     schnell, dass er diese Hieroglyphen nicht entziffern konnte.
    »Den lateinischen Text lege ich einer Freundin vor: Maria Majorana. Sie ist Professorin für alte Sprachen, für sie ist das
     ein Kinderspiel. Aber das hier scheint eine Geheimschrift aus dem 18. Jahrhundert zu sein. Ob das ein ›s‹ oder ein ›f‹ ist?
     Wer mag das entschlüsseln können … Ich kann dir da nicht weiterhelfen, wir brauchen die Hilfe eines Experten.«
    »Deshalb bin ich zu dir gekommen. Hast du nicht zufällig einen Bekannten, der sich mit Geheimschriften auskennt?«
    »Gib mir ein paar Tage, aber jetzt trink deinen Kaffee, sonst wird er kalt.« Gerry lächelte und reichte ihr die Tasse.
    Nachdem sie Gerry verlassen hatte, fühlte Vivy einen kleinen Stich im Herzen. Während Marco ihr die Wagentür öffnete, dachte
     sie wehmütig daran, wie anders alles wäre, wenn sie bei ihrer Rückkehr von ihren Söhnen und, wer weiß, vielleicht auch von
     ihren Enkelkindern empfangen werden würde. Sie hatte ihre Freundinnen schon immer beneidet, die durch ihre Enkel jung blieben.
     Sie dagegen hatte nichts als die Arbeit. Als sie an einer Ampel hielten, sah sie aus dem Fenster. Ihr Blick fiel auf einen
     uralten Nesselbaum, der seine mächtige Krone in den Himmel reckte. Nach dem keltischen Baumhoroskop war das »ihr« Baum, so
     hatte es jedenfalls Gerry erklärt. »Die unter dem Zeichen des Nesselbaums Geborenen, werden ein bewegtes Leben haben, reich
     an Anerkennung und gesellschaftlichem Erfolg.« Aber was nutzte ihr ein solches Leben, wenn es niemanden gab, der nach ihrem
     Tod die Früchte ernten konnte?
    Ich bin kein Nesselbaum, ich bin ein sterbender Baum ohne Wurzeln, sinnierte sie und blickte dabei in den Rückspiegel. |260| Ihr Fahrer betrachtete sie aufmerksam. In all den Jahren, die er für sie arbeitete, hatte er die Baronessa noch nie so alt
     und erschöpft erlebt. In ihr Gesicht, von der Presse immer als »alterslos« bezeichnet, hatten sich plötzlich tiefe Spuren
     eingegraben, Spuren eines langen Lebens, das ihr alles abverlangt hatte.
     
    Vivy Sannazzaro legte sich das Kaschmirplaid um die Schultern und trat ans Fenster. Draußen tobte ein Unwetter.

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