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Ich kenne dich

Ich kenne dich

Titel: Ich kenne dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenn Ashworth
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zu fragen, ob er in jener Nacht Dienst gehabt hatte, als die Polizei ihn befragte. Er erinnerte sich weder an Donald noch an einen der anderen Kunden. Er fühlte sich nicht qualifiziert, sich zu Donalds Gemütsverfassung zu äußern.
    Wir fühlten uns dazu auch nicht qualifiziert, aber es hätte ein Trost sein müssen, zu wissen, dass Donald in jener Nacht nicht im Gedächtnis blieb. Vielleicht hätte Chris (ich habe ihm diesen Namen gegeben – die Polizei hat ihn uns nie gesagt) sich eher an einen Mann erinnert, der leise mit sich selbst murmelte, tobte oder heulte, oder der nicht zu wissen schien, mit welchem Namen er den Beleg unterschreiben sollte. Es deutete darauf hin, dachten wir, dass ermittelt wurde, weil Zweifel an Donalds Absichten bestanden. Er sei seit Jahren nicht mehr selber Auto gefahren, sagten sie, ob heute ein besonderer Tag wäre?
    Ich wollte ihnen von der Sea Eye erzählen – dem immer näher rückenden Einsendeschluss, den letzten Tagen des hektischen Tippens und Neu-Tippens, Kritzelns und Recherchierens bis spät in die Nacht. Es gab Ergebnisse zu dokumentieren und Beweise zu sammeln: Das war kein groß angelegter Abschiedsbrief. Als ich anfing, sah Barbara mich an und schüttelte leicht den Kopf. Nein, meinte sie, wir reden nicht über solche Dinge außerhalb der Familie.
    Das Boot war auf den Hänger geschnallt, der im Vorgarten von Donalds Freund aus Morecambe stand. Er schlich die Auffahrt hoch, als es noch dunkel war, und nahm es mit. Craig und seine Frau hörten seine Schritte im Kies nicht, und auch nicht den Wagenmotor, als er den Hänger abschleppte. Sie meldeten ihn erst am nächsten Morgen um elf als gestohlen – lange nachdem sie bemerkt hatten, dass er weg war. Sie wollten zuerst in Ruhe frühstücken. Das Boot hatte keinen großen Wert für sie. Craig sagte, sie hätten es nur behalten, weil Donald immer wieder versprochen hatte, es zu nehmen. Er wollte »Barbara bearbeiten«, obwohl diese Worte nicht klangen wie etwas, das ich meinen Vater jemals hätte sagen hören.
    Es war ein leicht unrechtmäßiges Unterfangen – zumindest für Donalds Verhältnisse – , und dieser Punkt beschäftigte mich lange. Es war eine Tat, die scheinbar nicht zu ihm passte beziehungsweise zu dem, was ich über ihn wusste. Sich heimlich davonzuschleichen in der stillen grauen Morgendämmerung, um ein Boot zu klauen, das ihm ohnehin versprochen worden war.
    »Wenn er gefragt hätte«, sagte Craig eines Nachmittags zu uns, »wäre ich mit ihm rausgefahren. Ich hätte ihn hingebracht, wohin auch immer er gewollt hätte.« Er trank Kaffee in Barbaras Küche und lehnte sich gegen die Spüle.
    Es war anders hinterher: Es gab keine Angst mehr, dass jemand unangemeldet auftauchen könnte.
    »Was hat er da draußen gesucht? Weißt du das, meine Liebe?«, fragte Craig.
    »Er war einfach gerne draußen unterwegs«, sagte Barbara. »Und er konnte seine Fähigkeiten nicht realistisch einschätzen. Zum Schluss war es ein Vierundzwanzig-Stunden-Job, auf ihn aufzupassen.«
    »Du hast getan, was du konntest.«
    Barbara murmelte etwas, füllte seine Kaffeetasse auf, und der Mann ging, während die Schuld an ihm klebte wie ein Faden. Er fühlte sich verantwortlich. Wie ein Mörder vielleicht, obwohl er wahrscheinlich in seinem ganzen Leben nie die Hand im Zorn erhoben hatte. Allerdings kann man jemanden umbringen, ohne ihn überhaupt anzufassen. Ich wusste das besser als alle anderen.
    Vielleicht hatte Donald die Zeit vergessen und erwartet, dass seine Freunde auf waren und gerade frühstückten. Vielleicht hatte er an die Tür geklopft und, da er keine Antwort erhielt, beschlossen, das Boot trotzdem mitzunehmen. Oder vielleicht hatte er im Wagen auf dem Weg dorthin geübt, was er sagen wollte, und plötzlich den Mut verloren und sich geschworen, es später wiedergutzumachen. Dieser Ausflug war lange im Voraus geplant gewesen. In seinem Zimmer lagen Handbücher über Außenborder und Strömungen, Gezeitenkalender und Karten von der Bucht.
    Die Sporttasche wurde ungefähr eine Woche später am Strand von Heysham gefunden. In der Tasche waren Gläser und Tabletts und leere Eiscremebecher, die Deckel darin verkeilt. Er hatte eine Weile gesammelt. Da war auch ein Netz. Es war eine wissenschaftliche Exkursion. Er forschte. Er wollte eine Probe nehmen. Ich kann mir nur vorstellen, dass der rasant näher rückende Einsendeschluss des National Geographic ihn dazu veranlasst hatte, sich an jenem Morgen davonzuschleichen –

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