Ich kenne dich
festgelegte Grenze, wie weit man sie verlottern lassen darf.«
»Aber nicht für den Aufzug«, sagt sie und blickt auf den Fernseher. »Wissen die schon, wer es ist?« Sie schlürft den Wein und merkt nicht, dass sie sich wiederholt.
10
Emma war schon immer bei mir auf der Valley School, aber ich hatte ihr nie viel Beachtung geschenkt. Normalerweise hielt ich den Kopf unten, bis am Ende der achten Klasse Chloe kam und dafür sorgte, dass die Mädchen, die mich schikanierten, sich ein anderes Opfer suchen mussten. Aber igendwann, als ich nicht aufpasste, begann Emma, Chloe immer näherzukommen, und weil Chloe meine beste Freundin war, bekam ich Emma öfter zu sehen. Es fing an in den Herbstferien im Oktober, als Chloe mit Emma bei mir auftauchte. Es war das erste Mal, dass ich mich richtig mit Emma unterhielt, und das erste Mal, dass mir bewusst wurde, dass Chloe Sachen unternahm, bei denen ich nicht dabei war, Sachen, von denen ich nichts wusste.
»Lass mich rein«, sagte sie und stürzte ins Haus, als würde sie verfolgt. Ich hielt die Tür auf und sah über die Hecke und die Straße entlang, aber nichts rührte sich, abgesehen von den Seiten der Evening Post und den Flyern mit Infos über persönliche Sicherheit und Selbstverteidigungskurse, die über den Gehweg in den Rinnstein wehten, zusammen mit den wirbelnden Blättern.
»Wir sind den ganzen Weg gerannt«, sagte sie keuchend. »Ich bin geschafft.«
Emma nickte mir ernst zu und folgte ihr eilig hinein. Sie war noch nie zuvor bei mir gewesen. Ich schloss die Tür. Chloe lehnte sich gegen die Heizung in der Diele, eine Hand über ihrer Brust. Ihre Fingernagelspitzen waren perfekte Halbmonde, weil sie einen weichen weißen Stift hatte, mit dem sie die Unterseiten anmalte. Emma ging zu ihr und stellte sich neben sie, bevor sie, nach kurzer Überlegung, den Arm um Chloes Schulter legte.
»Was ist denn mit euch los?«, fragte ich.
Emma war nicht so dumm, Chloes Geschichte für sie zu erzählen, und Chloe gab keine Antwort – sie war nicht fähig zu sprechen, vorerst. Sie wedelte mit der Hand, damit ich wartete, während sie nach Luft rang. Ihr Eyeliner war verschmiert, und ein schmutziger Streifen war auf dem Ärmel ihrer hellen Jacke.
»Pst«, sagte sie und deutete auf die Wohnzimmertür. Barbara saß dort mit Donald und sah sich die Antiques Roadshow an. Es war eine alte Folge. Barbara hatte einen ganzen Stapel Videos davon, die sie im Fernsehen aufgenommen hatte, weil die Sendung Donald ruhig hielt, während sie lief, und ihn zu harmlosen Missionen auf dem Dachboden veranlasste, wenn sie vorüber war.
»Können wir in dein Zimmer gehen?«, fragte Chloe schließlich.
»Okay.«
Zu dritt latschten wir die Treppe hoch – Chloe als Erste, dann Emma, dann ich, während ich sämtliche Türen hinter uns schloss. In meinem Zimmer pflanzte sich Chloe auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch. Emma setzte sich aufs Bett. Sie zog ihre Jacke nicht aus. Ich zögerte zwischen den beiden und lehnte mich schließlich gegen die Wand. Es war unbehaglich, mich nirgendwo hinsetzen zu können in meinem eigenen Zimmer. Sachen lagen herum – aufgeschlagene Bücher und Zeitschriften, Videokassetten ohne Hülle, dreckige Klamotten. Chloe war daran gewöhnt, aber durch Emmas Anwesenheit wurde mir bewusst, dass das Zimmer schäbig und verwahrlost aussah. Ich schämte mich für den Lack, der vom Fensterbrett abblätterte, den kaputten Stuhl, der mit braunem Klebeband repariert war, und die langweilige Prägetapete an den Wänden. Emma schnappte sich eine zerfledderte Ausgabe von Sugar und legte sie auf meinen Schreibtisch.
»Was ist los?«, fragte ich. Ich sah Emma an, die den Kopf schüttelte.
»Das soll sie dir selbst erzählen.«
»Gib mir eine Minute«, sagte Chloe, und ich sah, dass sie mit sich zufrieden war: Sie musste sich ein Lächeln verkneifen und zeigte all die anderen Anzeichen, dass sie es kaum erwarten konnte, ein Geheimnis loszuwerden. Etwas »Vertrauliches«, während sie sich sehnlichst wünschte, dass ich sie darüber ausfragte.
»Ich wollte bei dir vorbeischauen«, begann sie. »Also habe ich beschlossen, mich früh auf den Weg zu machen und zu Fuß zu gehen. Ich wusste nicht, ob ich noch Hausarrest hatte, und wenn ich gefragt hätte, ob mich einer fährt oder mir Geld gibt, hätte ich sie automatisch daran erinnert. Also habe ich mich hinten rausgeschlichen.«
»Was ist passiert?«, fragte ich.
Dies war Chloes Seifenoper, und ich kannte den Part, den ich
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