Ich kenne dich
»Das machen die ständig. Sie halten Details zurück, damit sie wissen, wann sich ein Anrufer einen Scherz erlaubt. Das habe ich bei Crimestoppers gesehen. So können die herausfinden, ob man die Wahrheit sagt. Aber das ist zu schräg, um es zu erfinden.«
»Sie will nicht zur Polizei«, sagte Emma. »Das hat sie doch schon gesagt.«
»Das ist mein Zimmer, danke, Emma«, erwiderte ich. »Außerdem zwinge ich sie ja zu nichts, oder? Ich sage nur, dass die versuchen, diesen Gestörten zu schnappen. Wenn man etwas über ihn weiß und es verheimlicht, kann das Ärger geben. Barbara sagt, solche Typen schaukeln sich immer weiter hoch. Irgendwann wird er ein Mädchen ins Auto zerren, falls man ihn nicht vorher erwischt.«
»Keiner sagt was«, bestimmte Chloe. »Wenn ich das meiner Mutter erzähle, lässt sie mich nie wieder aus dem Haus. Und dann darf keine von uns mehr raus bis Weihnachten. Ist es das, was du willst?«
»Wenn sie ihn schnappen, darfst du auch wieder raus. Und wenn du zur Polizei gehst … « Ich machte eine kurze Pause, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen. »… dann wirst du bestimmt von Terry und Fiona interviewt. Fiona hat doch auch mit diesem einen Mädchen gesprochen, oder nicht? Ihre Stimme wurde zwar synchronisiert, aber trotzdem war sie live im Studio. Du wirst im März fünfzehn – du könntest im Fernsehen auftreten und ein richtiges Interview geben.«
Chloe zögerte. Ich wusste, sie stellte sich gerade vor, dass sie in der »Garderobe« vor einem Spiegel saß, der von Glühbirnen umrahmt war. Ich glaube, sie hätte es sich vielleicht anders überlegt, hätte Emma nicht gesagt: »Dann musst du deiner Mutter erklären, warum du diesen Umweg gegangen bist.« Sie zog an einer imaginären Zigarette. »Und woher du die Kippen hast. Wie du dir das leisten kannst.«
»Das würde sie nicht interessieren«, widersprach ich, aber Chloe schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. Sie hatte sich entschieden.
»Vergiss es, Laura «, sagte sie. »Wir wären bestimmt nicht hierhergekommen und hätten es dir erzählt, wenn wir vorher gewusst hätten, dass du so omahaft reagierst.«
»Warum habt ihr es mir dann erzählt?« Ich setzte mich auf den Schreibtischstuhl, den Chloe freigemacht hatte, und blickte die beiden an. Emma war nicht hübsch, nicht wie Chloe, aber sie passten trotzdem zusammen. Wie Negative voneinander, eines braun, das andere blond, in Jeans, Schoppersocken und verschmiertem Make-up.
»Wir dachten, du findest das lustig«, sagte Chloe.
»Es ist lustig«, sagte Emma schwach.
»Siehst du?«
Ich sah weg und kam mir erniedrigt und dumm und klein vor.
Chloe und Emma setzten ihren Willen durch, und statt die Geschichte irgendwem zu erzählen, erzählten wir sie uns gegenseitig. Ich glaube, Chloe kam sich dadurch besonders vor, fast berühmt, und dass ihr Emma als Erste über den Weg gelaufen war und ihre Geschichte erfahren hatte, als der Vorfall noch ganz frisch war, hatte die beiden zusammengeführt. Chloe verließ sich oft auf Emma, um Details zu ergänzen oder die genaue Form der Maske zu beschreiben oder die exakte Betonung der Worte, die der Kerl gesagt hatte.
Es war eigentlich die Story der beiden – ich war nur die, der sie sie erzählten. Nur das Publikum. Immer wenn der Sextäter wieder auftauchte oder etwas Neues über den Fall berichtet wurde in den Lokalnachrichten, warf Chloe Emma einen vielsagenden Blick zu, während ich versuchte, in ihr Gelächter einzustimmen, aber es funktionierte nie. Manchmal dachte ich, wenn Emma sich einfach um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerte, würde Chloe das Richtige tun und sich bei der Polizei melden. Aber das war lächerlich. Ich hatte noch niemanden getroffen, der Chloe zu etwas überreden konnte, das ihr widerstrebte.
Das nächste Mal, als wir zu dritt in den Park gingen, zeigte sie uns die Stelle, wo es passiert war, als ahnte sie, dass ich ihr nicht richtig glaubte. Sie sagte uns, wo genau, nämlich auf einem Pfad in einem verwahrlosten, fast bewaldeten Bereich des Parks hinter dem Pavillon, wo viele Weißdornbüsche und Stechpalmen gepflanzt worden waren, um die Leute davon abzuhalten, dort zu übernachten oder sich zu spritzen. Sie wirkte weder ängstlich noch aufgeregt, bei keinem der Male, die wir uns darüber unterhielten, aber sie behauptete einmal, dass sie von dem Kerl geträumt habe – von seiner Maske und seinen hellbraunen Stiefeln, als er raschelnd durch das Laub stapfte und sie durch die Augenlöcher
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