Ich kenne dich
wie mit einem Fächer. »Worüber?«
»Über Forscher.«
»Blödsinn«, sagte sie. »Das ist von deinem Dad, nicht wahr?«
»Was?«, sagte Emma.
Chloe wandte sich von mir ab. Ich sah ihr Gesicht im Profil – ihr Mund öffnete und schloss sich, eine Haarlocke kringelte sich um ihr Ohr. Sie hatte einen Leberfleck seitlich am Hals. Ich starrte darauf. Am liebsten hätte ich mit einem spitzen Bleistift hineingestochen.
Emma rümpfte die Nase. Pfannengesicht. Pfannengesicht. »Ihr Vater schreibt ein Buch?«
Chloe leckte sich über die Lippen, holte tief Luft und redete so laut sie konnte, ohne zu schreien.
»Eigentlich darf das niemand wissen, aber Lolas Groß-, ich meine, Lolas Vater ist ein bisschen doof in der Birne. Er haust in einer Abstellkammer, wo ihre Mutter ihn einsperrt, weil es zu gefährlich ist, wenn er alleine durchs Haus wandert.«
Emma warf mir einen Blick zu. »Gehen wir zu weit?«, schien sie zu fragen. Es war nicht mehr lustig, und Emma war nicht grausam, nicht so wie Chloe. Das war schlimmer. Das war Mitleid und der Versuch, zu verstehen. Ach so, dachte sie bestimmt, darum bist du so, wie du bist. Darum bist du keine von uns – eine ewige Außenseiterin, zu Hause vergessen an Silvester, draußen vor dem Wagen wartend am zweiten Weihnachtstag. Wache haltend. Immer aufpassen, warten, folgen. Das ist wegen deinem Dad. Er hat eine Meise. Ich hätte es wissen müssen.
Ich konnte nicht reden. Es war nicht wahr. Nicht einmal ansatzweise. Es hatte zwar Unfälle gegeben mit Aspirin und Einwegrasierern, aber bei Chloe klang es so, als würden wir ihn an einer Kette halten, die in der Wand verankert war. Mehr noch als die Unwahrheit verschlug mir der Verrat den Atem. Ich wusste, dass sie nicht wie normale Eltern waren, natürlich wusste ich das. Es war schon schlimm genug für mich, ohne dass Donald und seine Abstellkammer und seine Aufzeichnungen publik gemacht wurden. Es war keine Abstellkammer, es war ein Arbeitszimmer, und es hatte lange Zeit gedauert, bis ich Chloe zu mir nach Hause einlud.
»Gib es her, Chloe«, sagte ich leise. »Das ist wirklich unnötig.«
Chloe stieß ein johlendes Lachen aus.
»Komm mal her, Em, sieh dir das an.«
Emma blickte mich wieder an, fast widerwillig, aber nicht ganz, und lehnte sich von hinten gegen Chloe, während sie über ihre Schulter hinweg las. Sie kicherte und begann, laut vorzulesen.
»Der humanitäre Nutzen dieses Projekts, ausgehend davon, dass es uns gelingt, die Bakterien hinter dem Meeresleuchten-Phänomen vor Heysham zu lokalisieren und zu entnehmen … « Sie stolperte über die Wörter, aber Chloe hielt sich mit einem Kommentar zurück, obwohl Emma in Kurs drei war und Chloe und ich in Kurs eins. »… ist enorm und weitreichend. Wir werden … « Sie warf mir einen Blick zu, stirnrunzelnd. »… in der Lage sein, diese Ziele durch eine angemessene Vermarktung der eher kommerziellen Anwendungen zu finanzieren, aber die Leser dieses Berichts dürfen nicht vergessen, dass … « Sie verstummte und blickte mich an.
»Was soll das? Was labert der da auf einmal von Weihnachtsbäumen und Vergewaltigern? Ich kapier das nicht.«
»Da gibt es nichts zu kapieren, du Hohlkopf«, sagte Chloe und stieß Emma mit dem Ellenbogen weg. »Ihr Vater ist ein Spinner. Und es ist ansteckend. Wahrscheinlich hat sie die Hälfte davon selbst erfunden.«
»Gib es mir«, sagte ich leise. Ich streckte die Hand aus, und sie schlug sie weg.
»Du bist eine schräge, frigide kleine Zicke, nicht wahr?«, sagte sie. Emma war wieder an ihrer Seite. »Du sitzt in der Bücherei und tippst das alles ab. Du bist genauso schlimm wie er.«
»Er bezahlt mich dafür«, sagte ich. »Das ist bloß ein Job. Ein bisschen so wie du, wenn du für Carl die Beine breitmachst, weil du eine neue CD haben willst. Weißt du?«
Chloe machte einen Satz nach vorne, und ich dachte schon, sie würde mir eine knallen, aber im letzten Moment biss sie sich auf die Unterlippe und wandte sich ab.
»Du weißt rein gar nichts über mich und Carl.«
»Ich weiß, dass nicht ich diejenige bin, die frigide ist. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, hat er mir seine Zunge in den Hals gesteckt. Du lässt ihn wohl nicht mehr ran, Chloe? Oder ist er einfach angeödet, weil du ihm die ganze Zeit auf der Pelle hängst? Schätze, du weißt es nicht, jetzt, wo Mami dich die ganze Nacht einschließt.«
Ich rechnete damit, dass sie mich jetzt schlagen würde, ganz ernsthaft. Sie ballte die Hand zur Faust und
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