Ich kenne dich
zerknüllte dabei die Seiten. Ich musste sie noch mal ausdrucken, dachte ich, aber das war egal. Keine große Sache.
Chloe sah Emma an.
»Carl hat dich nicht angegraben«, sagte Emma. »Du lügst. Das hat er nicht getan.«
»Seit wann ist das dein Problem?«, entgegnete ich. »Was hast du damit zu tun, dass Chloe ihren Freund nicht halten kann?«
»Das hat er nicht getan«, wiederholte sie. »Gib es zu.«
Chloe war still. Ich lachte und dachte, dumm wie ich bin, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte.
»Doch, hat er. Aber keine Sorge, ich habe ihn abblitzen lassen. Ich bin nicht interessiert, Chloe. Du kannst ihn behalten, wenn du so scharf auf ihn bist.«
Emma erstarrte. Ihr Gesicht wirkte vor Schreck wie versteinert.
»Lass gut sein, Chloe. Sie ist es nicht wert, nachsitzen zu müssen.« Sie schlang ihren Arm durch Chloes und versuchte, sie wegzuziehen.
»Geh nach Hause zu deinem Daddy«, sagte Chloe. Sie verengte die Augen zu Schlitzen und warf die Seiten nach mir. Sie flatterten zwischen uns wie Vögel. Die Glocke bimmelte zum Ende der Mittagspause, und der Flur füllte sich rasch mit Leuten, die umherwimmelten, um ihre Taschen aus den Spinden zu holen und zur nächsten Stunde zu eilen. Die getippten Seiten wurden unter vielen Fußpaaren zertreten.
Chloe starrte mich herausfordernd an, damit ich mich hinkniete und sie aufsammelte, aber ich zuckte mit den Achseln und ging weg.
»Carl hat nichts mit dir zu schaffen«, giftete sie mir hinterher. »Er gehört uns .«
20
Auf allen Fotos von Chloe, die nach ihrem Tod gedruckt wurden, lächelte sie, die Haare streng zurückgebunden, der Kragen ihrer Schulbluse steif und blendend weiß. Aber manchmal erinnere ich mich daran, wie sie in dieser Mittagspause war – an die Haare, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten und über den Ohren herunterhingen, an die geschürzten Lippen, an die Hand auf der Hüfte und den Pickel, der sich auf ihrem Kinn bildete. An den bösen Blick. Ein Blick, bei dem einem das Blut in den Adern gefrieren konnte.
Heute Abend denke ich an die Dinge, die in diesem Winter passiert sind, und es ist, als würde ich mich selbst in einer nachgestellten Szene beobachten. Irgendein Mädchen, das nicht real genug ist, um ich zu sein, stolpert durch die Gänge in einer Schule, die nicht so groß gewesen sein kann, und sitzt in der Nähe von zwei Mädchen, denen niemals erlaubt worden wäre, so grausam zu sein. Unsere Streitereien waren wahrscheinlich komisch und belanglos für Shanks, Brocklehurst und die anderen. Niemand bemerkte etwas anderes als die übliche Ebbe und Flut in Mädchenfreundschaften. Darum gab es hinterher die ganzen Befragungen: Sie meinten, jemandem hätte etwas auffallen müssen.
Manchmal erinnere ich mich so genau an meine Gedanken, dass es den Anschein hat, als wüsste ich, welche Momente bedeutungsvoll waren, noch bevor ihre Bedeutung klar wurde. Ob das wohl möglich ist? Dass etwas passiert – dass das Ereignis explodiert wie ein Feuerwerk und die Erinnerungen davor schon erhellt und nicht erst danach? Schon möglich. Damals war ich beschäftigt mit meiner Schuld und meiner Sorge um Wilson und mit Emmas seltsamem Sich-an-die-Schulter-Drücken und Chloe-mir-Wegnehmen. Ich war sauer auf Chloe, als wäre das mit Wilson ihre Schuld statt meine. Ich hatte immer erwartet, dass man als beste Freundinnen seine Geheimnisse teilte und die Belastungen gemeinsam schulterte. Und als ich sie am meisten brauchte, verhielt sie sich wie jemand, den ich nicht kannte.
Nein, das war nicht richtig. Nichts an Chloes Verhalten war bemerkenswert. Sie war von mehreren Schulen geflogen, weil sie andere schikaniert und den Unterricht geschwänzt hatte. Sie hing nur an einem dünnen Faden an unserer Schule. Aber dieser Teil der Geschichte ist mittlerweile umgeschrieben. Nach ihrem Tod wurde aus »wild« »lebhaft« und aus »schikanierend« »stur«.
Es geschieht, als ich döse – mit müden Augen, während meine Nackenmuskeln sich langsam versteifen. Das leise Gemurmel von Terrys Live-Übertragung unterbricht die Werbung, und Emma stupst mich mit dem Ellenbogen.
»Eine aktuelle Sondermeldung: Wir können inzwischen bestätigen, dass die sterblichen Überreste, die vor ein paar Stunden hier entdeckt wurden, identifiziert sind. Es handelt sich um Daniel Wilson, der am 26. Dezember1997 , drei Wochen vor seinem vierunddreißigsten Geburtstag, spurlos verschwand.«
Terry macht eine kurze Pause, aber es ist nicht dasselbe – das ist keine
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