Ich kenne dich
auf. Sie trinkt es in einem Zug halb leer. Die Haut um ihre Fingernägel ist eingerissen und braun von alten Blutkrusten. Auf ihrem Daumen ist ein Tropfen Wein, und als sie es bemerkt, steckt sie ihn in den Mund und kaut anschließend am Daumennagel. Als davon nichts mehr übrig ist, beginnt sie, an der Haut zu knabbern, und zieht kleine Hautfäden ab. Das erinnert mich an Chloe. Ich höre ihre Zähne klackern.
»Er reitet immer noch auf dieser Geschichte mit dem Triebtäter herum«, sagt Emma. »Das ist doch eine Ewigkeit her.«
»Er glaubt, er hat endlich seinen Mann gefunden«, erwidere ich. »Terry war immer der Meinung, Wilson wäre der Täter. Er ist scharf auf einen Preis. Für seine Verdienste für alle jungen Mädchen überall.«
Emma schnaubt. Sie hat sich jetzt gefangen. Kann die komische Seite erkennen. »Wohl eher für seine Dienste an jungen Mädchen überall«, sagt sie. Sie steht auf und verlässt das Wohnzimmer. Ich höre die Badtür knallen, als wäre sie sauer auf mich. Als wäre das alles meine Schuld. Das Wasser läuft, und ich warte und verfolge weiter Terry, der so aufgeregt ist, dass er beinahe hüpft. Der, der davongekommen ist. Der äußerst aktive Triebtäter, dessen Übergriffe immer häufiger wurden, bis sie schließlich, als es bereits schien, als würden sie in einer Vergewaltigung oder einem Mord eskalieren, plötzlich aufhörten – genauso plötzlich, wie Wilson verschwand. Terry konnte es nie beweisen, obwohl er sich auch nicht zu schade war, sich dieses Verdienst zuzuschreiben, aber heute Abend, das sieht man, ist er überzeugt, es beweisen zu können.
Als Emma aus dem Bad kommt, wird im Fernsehen das Bild eines massiven Silberarmbands eingeblendet. Sie sieht darauf und muss zweimal hingucken. Ich weiß, was sie denkt.
»Das ist nicht von ihr«, sage ich rasch, »sondern von Wilson. Anscheinend trug er es immer.«
Ihr Gesicht ist rot – sie hat es mit Seife und anschließend mit dem rauen Handtuch geschrubbt, und ihre Stirnfransen sind in feuchten und unregelmä ßigen Büscheln nach hinten gestreift.
»Sie sind sich also sicher, dass er es ist. Kein Zweifel?«
»Sie müssen noch die DNA überprüfen, aber in dem Armband sind sein Name und seine Telefonnummer eingraviert. Das hatte medizinische Gründe. Er litt an einer Herzschwäche. Für den Fall, dass er auf der Straße bewusstlos geworden wäre, hätten die Sanitäter gewusst, dass sie darauf achten müssen. Es gibt bestimmte Medikamente, die Leute mit einem schwachen Herzen nicht vertragen. Sowas in der Art.«
Ich muss daran denken, dass meine Mutter früher unsere Telefonnummer in die Manschetten von Donalds Hemden stickte. Rückstich in blassgelbem Stickgarn. Er rieb immer mit dem Daumen darüber, wenn er nervös war. Es diente dazu, dass er immer zu Hause anrufen konnte, wenn er rausging und sich verirrte oder nervös wurde. So wusste er, dass es immer jemanden gab, mit dem er reden konnte. Ich runzle die Stirn und trinke einen Schluck, damit die Erinnerung verschwindet.
Emma fährt sich mit der Hand übers Gesicht, desinteressiert, nun, da sie weiß, dass es keins der Mädchen ist, um die sie Angst hatte, und setzt sich. Ich betrachte sie von der Seite und muss daran denken, als ich sie damals vor meinem Haus mit ihren Freundinnen lachen gesehen habe. Die hohen Absätze und die Ohrringe. Sie ist nicht mehr dieselbe. Ich spreche sie darauf an, aber sie zuckt mit den Schultern.
»Ich bin damals oft ausgegangen. Saufen, mit Typen rummachen. Und? Jetzt habe ich keinen Bock mehr darauf.«
»Warum nicht?«, bohre ich. »Was hat sich geändert?«
Sie greift in ihre Haare und zieht die Finger durch die feuchten Spitzen. Sie könnte fast hübsch sein – wenn ihr Gesicht nicht so grob und teigig wäre, und ihre Haut, wie meine, grau und aufgedun sen vo n zu viel Wein, zu viel billigem Fastfood und langen Nächten.
»Zu anstrengend«, antwortet sie nach einer langen Pause. »Ich bin nicht so. Nicht wirklich. Ich dachte, ich würde mich besser fühlen, ein wenig normaler, wenn ich versuche, einen Freund zu finden. Bin halt um die Häuser gezogen.«
»Und, hast du dich besser gefühlt?«, frage ich, neugierig wie ein Tourist, weil das etwas ist, was ich nie getan habe. Ich glaube, ich weiß, wovon sie redet. Von diesem Sich-nicht-Normal-Fühlen. Nach Chloes Tod waren unsere Fotos so oft in den Nachrichten, dass unsere Gesichter nicht mehr uns gehörten. Die Leute erkannten uns auf der Straße und wollten uns umarmen
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