"Ich laufe, um zu laufen ...": Eine Frauen-Laufen-Anthologie (German Edition)
Nacht. Da habe ich tatsächlich kurz überlegt, ob es noch Sinn macht weiterzulaufen, wo man doch so einfach besser im Bett liegen bleiben könnte. Aber dazu waren wir ja nicht in Hamm. Am fünften Tag war klar, dass nach einer weiteren Nacht schon das Ende schon zum Greifen nahe war. Der letzte Tag war für alle viel lockerer und ausgelassener, obwohl noch einmal vermehrt um Kilometer gekämpft wurde.
Die meisten Mitläufer waren sehr aufgeschlossen und vertrieben sich die Zeit zwischendurch immer mal durch Erzählen und manchmal sogar philosophieren, obwohl jeder für sich seine ureigene Welt lebte und mit eigenen Zielen und Vorstellungen von der Veranstaltung beschäftigt war. Zunächst waren wir mit 13 Läufern an den Start gegangen. Wolfgang Schwerck hatte angekündigt, einen neuen Weltrekord aufstellen zu wollen. Aber schon am zweiten Tag hatte er sich wegen der zu heißen Temperaturen aus dem Geschehen zurückgezogen. Sein Plan konnte unter den Bedingungen nicht aufgehen.
Dieter wollte seinen persönlichen Rekord von 513km brechen und kämpfte unerbittlich gegen sich selbst darum. Er schlief die meisten Nächte so gut wie gar nicht und glänzte durch Präsenz auf der Strecke. Er ging vor lauter Überanstrengung gegen Ende der Veranstaltung schief und wirkte manchmal am Rande seiner Kräfte, teilweise kaum noch zurechnungsfähig (das ist natürlich nur ein subjektiver Eindruck von einer, die bestimmt auch nicht besser bei Sinnen war). Unsere Physiotherapeuten machten sich auch Sorgenum ihn und wollten ihm helfen. Er konterte aber, dass ihm schon genug geholfen sei, wenn man ihn einfach in Ruhe ließe. So ist eben jeder anders. Auf meine Frage, warum er sich solcher Anstrengung unterziehe, war seine grandiose Antwort, er liebe die Eroberung des Nutzlosen. Wie schön! Über den Sinn oder Nutzen solcher Veranstaltungen könnte man sicher diskutieren. Dieter hat letztendlich noch einen neuen deutschen Rekord im Sechstagelauf in der Altersklasse M 65 mit 523 Kilometern aufgestellt. Unmittelbar nach der Siegerehrung war er nach all der Überanstrengung sogar in der Lage eine druckreife Dankesrede für die Helfer zu halten.
Den Norweger Trond kannte ich schon vom Deutschlandlauf. Er hat von Anfang an klargestellt, in Hamm im Urlaub zu sein und Spaß haben zu wollen. Da er in Norwegen oft Nachtschichten schieben muss, wollte er im Urlaub darauf lieber verzichten. Einen Tag ist er nur etwas mehr als den vorgeschriebenen Marathon gelaufen, weil er zu mehr einfach keine Lust hatte. Mit der Startnummer um den Bauch ist er einmal mit dem Fahrrad in ein nahe gelegenes Einkaufszentrum gefahren, um mal etwas anderes zu sehen. Er kam mit einer Flasche Wasser wieder, weil ihn im Endeffekt doch nichts weiter inspiriert hatte. Aufgrund seiner großen Begabung ist er trotzdem locker zweiter geworden. Wegen seiner bewundernswerten weißen Mähne wurde er vom Steppenhahn, dem eine ähnliche Haarpracht gegeben war, als „the most famous hairstylist“ bezeichnet. Als es regnete und viele von der Bahn gegangen sind, sagte Trond beim Überholen trocken: „Rain is good for your hair“. Auf mein fragendes Gesicht hin, fügte er gleich noch hinzu, dass ich mir das vom „most famous hairstylist“ mal sagen lassen sollte. Damit war gleich wieder das Eis gebrochen, um zusammen auf Englisch Blödsinn zu reden undstundenlang im Regen zu lachen. Normalerweise spreche ich kein Englisch, da ich denke, es nicht zu können. Wir haben so viel gelacht, dass wir uns manchmal die Bäuche halten mussten und der Steppenhahn bemerkte, dass „der Stoff“ ja wirklich gut sein müsse.
Auch Frank Hildebrandt hatte seine lustigen Minuten, obwohl er insgesamt eher ernsthaft wirkte und oft mit seinem großen Vorbild Else Bayer zusammen auf der Bahn spazieren ging. Zu dem kleinen 79-jährigen Iren Dan, der immer langsam mit riesiger Sonnenbrille vor sich hin trottete, sagte er einmal im Vorbeilaufen: „You have nice sunglasses.“ Als der wiederum mit trockenem englischen Humor antwortete: „Yes, I like them“, mussten Trond und ich auch wieder lachen. Später fragte Frank, warum Dan denn hier im Kreis laufe. „Ich finde den Ausgang nicht“, war seine prompte Antwort. Nach weiteren Runden fügte er hinzu, er werde aber noch ein paar Tage danach Ausschau halten. Dort stehe nämlich sein Rollator. Beim gemeinsamen Essen munkelte man, Dan lebe tatsächlich im Altenheim und bewege sich dort mit seinem Rollator fort. Der Einfall erntete natürlich
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