"Ich laufe, um zu laufen ...": Eine Frauen-Laufen-Anthologie (German Edition)
Möglichkeit ausgelassen zu tanzen, wild und wüst, so wie sie es mag. „Los, Baby, Abfahrt! Auf zur Paaaadie!“, sagt sie beim Gehen. Ihre Tochter verurteilt die peinlichen Sprüche, die Marco und Steffi wie einen Geheimcode miteinander pflegen. Die beiden suhlen sich fast in dem für Außenstehende albernen: „Natööölich, bidddde, biddddddde.“
Hinter der Turnhalle inmitten von weiteren bunten Zelten sieht Steffi plötzlich Ingo und Renate vor einem Familienzelt inmitten einer größeren Gruppe älterer Läufer. Ingo kennen hier alle. Er lässt seit über 30 Jahren keine Großveranstaltung mit langjähriger DDRGeschichte aus. „Da sind sie! Hillllfe! Lass’ uns woanders lang!“, sagt Steffi und packt Marco am Arm. „Hallo??? Ja, und? Kann uns doch egal sein! Komm weiter!“, entgegnet Marco. Steffi drückt sich jetzt eng an Marco, umarmt ihn. Alleine hätte sie diesen Gang nicht bewältigt. In seiner Begleitung aber fühlt sie sich sicher. Aufrecht geht sie an dem Zelt vorbei, ohne die Gruppe eines weiteren Blickes zu würdigen. Aus den Augenwinkeln aber bemerkt sie jetzt, wie sie von der Gruppe beobachtet werden. Marco fällt mit seinen langen Beinen auf. Aber auch Steffi in ihrem kurzen Rock und rotem Shirt im Kontrast zu den dunklen Locken übersieht niemand. Durch das Laufen, Radfahren, die Gartenarbeit und das Holzsägen ist sie braungebrannt. Sie wirkt zart, aber doch muskulös. Steffi kann sich lebhaft vorstellen, wie Renate wieder über sie herzieht und sie als Wessi-Schlange bezeichnet. Einem alten Bekannten hat Renate die Freundschaft gekündigt, weil er es gewagt hat, Steffi bei einem Projekt zu unterstützen.
Das Festzelt füllt sich langsam. Marco und Steffi sichern sich einen Platz auf den Festzeltbänken in der Nähe der Tanzfläche. Diese Bänke mit ihren grünen Metallbeinen sind schon flächendeckend in der ganzen Republik eingeführt. Jeder weiß, dass man aufpassen muss, wenn man sich unvorsichtigerweise ganz ans Ende gesetzt hat. Am Tresen holt Marco gleich vier Gläser Sekt zur Einstimmung. Beide neigen öfter zur Übertreibung und sind sich dabei einig. Bald sitzen ihnen Klara, die Marco aus Neubrandenburg kennt, und ihr Mann gegenüber. Kurz tauschen sie Neuigkeiten über gemeinsame Bekannte aus.
Aber schon beim ersten Lied stürmen Marco und Steffi auf die Tanzfläche. Ein bunter Musikmix aus vielen Jahrzehnten und Stilrichtungen veranlasst sie ausgelassen durchtanzen, mal zusammen, meistens getrennt. Sie sind dabei völlig auf sich selbst und ihre Bewegungen konzentriert. Sogar den Holzmichl ertragen sie und grölen mit: „Lebt denn der alte Holzmichl noch, Holzmichl noch?“ Sie sind wie im letzten Jahr schnell ins Geschehen eingestiegen. „Hey! Wir wollen die Eisbären sehen! Hey, wir wollen die Eisbären sehen!“ Andere Tänzer sind textfester als sie. Klar, sie haben die Musik in der DDR öfter gehört. Irgendwann bemerkt Marco, dass alle Bänke besetzt sind. Im Lärm kann er Steffi das nur durch eine Handbewegung mitteilen. Die Band „Juli“ mit ihrem Song „Das ist die perfekte Welle… das ist der perfekte Tag dafür“ wird gespielt. Juli ist ihre Kultband. Sie haben schon zwei Konzerte von ihnen zusammen besucht. Ja, es ist tatsächlich der perfekte Tag. Sie können jedes Wort mitsingen. Erst jetzt lässt Steffi ihren Blick durch die Menge schweifen. In der Nähe des Tresens, weit genug von ihrem Tisch entfernt, sitzen Ingo und Renate. Steffi weiß genau, wie gerne Ingotanzt. Wahrscheinlich hindert Renate ihn daran. Sie wirkt wie eine Matrone. Er dagegen wie ein Floh.
Bei genauso einem Tanzen hatten Steffi und Ingo sich während einer ähnlichen Sportveranstaltung kennengelernt. Sie hatte sich damals frisch von ihrem Mann getrennt und war in trauriger Grundstimmung. Weil sie gerade erst angefangen hatte zu laufen, war sie an dem Abend durch die ungewohnte körperliche Belastung noch sehr erschöpft. Sie konnte sich kaum aufraffen, überhaupt zur Party zu gehen. Beim Tanzen entwickelten sich aber ungeahnt neue Energien. Bei Musik von Gary Glitter knieten alle Tänzer irgendwann auf dem Boden und klatschten. So eine Gruppendynamik kannte Steffi überhaupt nicht. Der Schwung beim Tanzen mit Ingo, der sich immer mehr auf sie fixierte, nahm immer mehr zu, sie wurden immer ausgelassener.
Zu ihrer Überraschung hatte er sie schon einen Tag später angerufen. Nach immer häufigeren Telefonaten und Treffen entwickelte sich bald eine intensive Beziehung. Durch Ingo
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