"Ich laufe, um zu laufen ...": Eine Frauen-Laufen-Anthologie (German Edition)
ein. „Ja, lecker, richtig gut“, sagt Steffi. „Die hat überhaupt nichts geahnt. Dabei haben wir uns trotz der ganzen Entfernung bestimmt zweimal die Woche gesehen. Das war irre! In der Version für seine Frau hat er ein aufwändiges Rennradtraining durchgezogen. Sieben bis acht Stunden am Tag, ist stattdessen aber mit dem Auto in meine Richtung gefahren. Später im Wettkampf hat er sich nur auf seine Grundausdauer verlassen. Das muss man sich erst mal trauen. Man, ja, das war ne Wahnsinnszeit, lange her, vollkommen verrückt. Ich weiß auch nicht.“, sagt Steffi und zuckt die Schultern. Sie war mehr von seiner hartnäckigen Liebe als von ihm selbst fasziniert. So etwas kannte sie gar nicht. Wenn er das Lied „Ich liebe dich“ im Radio gehört hat, hat er sie angerufen und sie mithören lassen, auch wenn er zwei Minuten vorher gerade aufgelegt hatte. In seinen Schulpausen ist er regelmäßig zur Telefonzelle gelaufen, um kurz ihre Stimme zu hören. Ständig hat er an sie gedacht und sie jeden Tag erneut zur Prinzessin seines Herzens gemacht.
Für Steffi ist das Ingo-Thema wieder beendet, mehr Fragen und Antworten will sie nicht zulassen. Sie legt sich mit angezogen Beinen auf die Bank und ihren Kopf in Marcos Schoß. Sie sucht Geborgenheit. Sollen sie doch alle denken, was sie wollen. Der kurze Gedanke, wie es geworden wäre, wenn Ingo sich anders hätteentscheiden können, streift Steffi aber doch noch. Die Beziehung hätte im Chaos enden müssen, da sie sich zu ähnlich sind. Zum täglichen Leben braucht es die Anziehung gegensätzlicher Pole. Der harmonische Gleichklang zweier Herzen ist nur in Freiheit möglich. Sie weiß, dass er immer noch nicht mit anderen über ihre Beziehung geredet hat. Er bewahrt seine Gefühle für sie wie einen Diamanten vor Dieben. Es scheint, als wolle er die Illusion der ewig verbindenden Gleichheit bewahren. Leidenschaftslos betrachtet sieht Steffi darin zwei zueinander passende Neurosen.
Und schon sausen Marco und Steffi wieder auf die Tanzfläche. „Highway to Hell”, AC/DC. Der Weg in die Hölle wird durch rhythmische Kopf- und Armbewegungen unterstützt. „You make me crazy“… noch ein altes Stück. Während „crazy“ über ihre Lippen kommt, sieht Steffi Ingo als Rumpelstilzchen. Renate dagegen ist die Hexe von Hänsel und Gretel, nur fülliger. Hatten Ingo und Steffi sich damals nicht auch im dunklen Wald verirrt? Irren sie etwa noch immer umher? Nach wie vor beschwört Ingo Steffi in Telefonaten über ihr unsichtbares Band, das trotz Trennung niemals reißen wird.
Während eines Marathons richteten sich einmal Fernsehkameras von einem Motorrad aus auf Steffi. Im Glauben, dass Ingo sie unmittelbar so sehen wird, hat sie nur für ihn „gestrahlt“ und sein Gesicht dabei direkt vor sich gesehen. Sie wollte ihm zeigen, dass es ihr gut geht. „Meine strahlende Steffi“, nennt er sie noch immer, wenn er irgendwo heimlich auftaucht, um sie kurz zu sehen. Und tatsächlich hatte er sie noch am Nachmittag auf dem Sofa seiner Schwiegermutter in der Sportreportage im Regionalfernsehen gesehen. Ein anderes Mal, lange nach „ihrem Jahrhundertsommer“, hat Steffi während ihresTrainings in meditativer Stimmung am Fluss gefühlt, dass er sie gerade anruft. Sie hatte drei Fragen an ihn. Wieder zu Hause klingelte tatsächlich das Telefon. Ohne weitere Umschweife beantwortete er ihre Fragen sogar genau in der richtigen Reihenfolge, ohne dass sie sie gestellt hatte. Gibt es Telepathie?
Auf der Tanzfläche ist ein Kommen und Gehen. Aber Steffi und Marco bewegen sich zu alten Liedern und neuer Musik gleichermaßen ohne Pause, singen und feiern. Der Alkohol fließt reichlich, kalter Schweiß tropft von der Decke und trifft Steffi direkt auf der heißen Haut. Sie schüttelt sich. „Ähh! Igittt!“ Wie oft hatte sie Ingo eigentlich schon gesagt, er solle sie nicht mehr anrufen? Nach Wutausbrüchen von Steffi hält er sich meist auch mehrere Wochen daran. Am 9. November weist Ingo aber regelmäßig darauf hin, dass sie sich ohne den Mauerfall nie kennengelernt hätten. Dann hört Steffi ihm doch immer wieder gerührt zu. Mittlerweile geht die Party schon seit Stunden. Ein Ende ist nicht abzusehen. Die Stimmung nimmt eher weiter zu. Während des Tanzens versuchen Marco und Steffi zum hundertsten Mal zu klären, ob Ossis wirklich besser feiern können. Die Frage „unbeschwerter?“ dringt noch wie ein Fetzen durch die Musik, während Steffi zufällig sieht, wie Renate das
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