"Ich laufe, um zu laufen ...": Eine Frauen-Laufen-Anthologie (German Edition)
Herz zu einer stummen Melodie tanzen.
Ihr Atem zeugte von der immensen, unaufhörlichen Anstrengung,
doch sie musste einfach weiterlaufen.
Sie rannte sich von den Fesseln frei,
die für so lange Zeit um ihre Knöchel gelegen hatten.
Sie kämpfte gegen die Trägheit an und lief,
bis sie sich frei fühlte.
Sie lief, bis sie endlich frei war.
Frei wie ein Vogel.
Sabine Meisel
Laufen, küssen, laufend küssen!
„Rachitisch verformt und zu mager“, die Ärztin zog mir mit kalten Fingern die gekreuzten Arme von der Brust weg. „Hol’ mal tief Luft“, und presste mir das eiskalte runde Teil an die Brust, um mich abzuhören. Ihr Haar stank nach Schmalzbrot, das ich bisher, das heißt 12 Jahre lang gerne gemocht hatte. Ich atmete durch den Mund aus und ein, wie die Ärztin das wollte und das hatte zumindest den Vorteil, dass ich sie weniger roch. Meine Wangen brannten vor Scham. Den Stempel Sonderturnen, wegen einer Trichterbrust, spürte ich fast auf der Stirn. Von da an mochte ich keine Schmalzbrote mehr und trug weite Sachen, damit sich das Loch bloß nicht abzeichnete. Aber Sport blieb mein Lieblingsfach, trotz mager und rachitisch. Den Zettel, den meine Eltern unterschreiben mussten, unterkritzelte ich selbst. Sie sollten nicht denken, dass ich krank bin.
Aber ich war schnell. Rennen auf roter Aschenbahn in der Sportstunde. Einmal, zweimal dreimal, jedes Mal Siegerin. Die Sportlehrerin guckte mich nachdenklich an und sagte, „mit dir solltenwir nächste Woche zum Kreisschulfest gehen“. Sport statt Mathe, ein reizvolles Alternativprogramm. Die Trainingsmethoden meines Bruders waren eklig, aber schienen zu nutzen. Regenwürmer hasste ich. Schon ihr Geruch bei Regen, wenn sie verzweifelt die Wege bevölkerten, verursachte mir Übelkeit. Sein Trainingssystem war ganz einfach, er warf mir Regenwürmer hinterher. Mittlerweile musste er nur noch eine geschlossene Hand machen und ich lief schon schreiend davon. Die Erinnerung an die stinkigen, glitschigen Regenwürmer, die sich in meinen Haaren verfingen, ließen mich wie ein Blitz verschwinden, selbst wenn ich ahnte, dass er vermutlich nur Luft in der Hand hielt.
Der Tag des Schulkreisfestes, Wolken verhangen, ein kühler Sommertag. Meine ausgeleierte Trainingshose wärmte mich. Die Turnschuhe waren schon etwas ausgetreten, aber der Vorlauf gelang, obwohl mich der Schuss etwas erschreckte. Auch den Zwischenlauf gewann ich und damit die Qualifikation für den Endlauf, meine Sportlehrerin sah zufrieden aus. So langsam saß ich doch etwas aufgeregt in diesen Startmaschinen. Die anderen fünf Läuferinnen schüttelten ihre langen Beine in ihren knappen Frottierhöschen aus. Darum beneide ich sie bei dieser Kälte überhaupt nicht, aber um die funkelnden Sprintschuhe, deren Dornen sich in die Aschenbahn gruben. Meine Gummistoffturnschuhe rutschten etwas auf der Asche. Trotzdem lief ich an der ersten Frottierhose vorbei, an der zweiten, an der dritten und dann war ich im Ziel. Dritte. Die Sportlehrerin strahlte: „Dritte ist super“.
Ein Mann, im dunkelblauen Trainingsanzug, braun gebrannt fand das auch – „Glückwunsch“, schrie er schon von weitem. „Ein Naturtalent –ohne Training, ohne Spikes, Super“. Sein Theater war ein bisschen peinlich. Von meinem speziellen Würmertraining wussten sie natürlich nichts. „Hast Du Lust bei mir zu trainieren, morgen 18 Uhr im Stadion an der Schule.“ Sein Gesicht war durchfurcht, wie zerschnitten, viel älter als mein Vater. Die Sportlehrerin nickte aufmunternd. Bei der Siegerehrung musste sie mich richtig nach vorne schubsen. Die drei anderen Frottierhosen gucken neidisch und ich war zum ersten Mal stolz. Stolz auf mich. Stolz auf meinen Körper, trotz Trichterbrust und verbeulter Trainingshose.
Mit 15 war ich in meiner Klasse die einzige Ungeküsste. Mir machte das recht wenig aus, mich interessierte das Laufen. Während meine Schulkameradinnen mit glühenden Wangen aus stillen Ecken auftauchten, zog ich meine schweißtreibenden Runden. Ein rotes Gesicht bekam ich davon auch. Was sollte das bringen, außer der eigenen versabberten Zunge, eine weitere ertragen zu müssen. Das Sporttrikot saß noch ohne Rundungen an meinem Körper, nichts bremste meinen Bewegungsdrang. Über die große Kuhle in meiner Brust machte ich mir keine Gedanken mehr. Der Körper war muskulös und lief. Das war das einzige, das zählte. Ich wollte nur eines - zur nächsten Olympiade. Dafür arbeitete ich hart, nur die besten Sportler
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