"Ich laufe, um zu laufen ...": Eine Frauen-Laufen-Anthologie (German Edition)
wurden in ein Trainingslager geschickt, Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren. Morgens drei Stunden Lauftraining und nachmittags in den Kraftraum.
Abends sanken alle total erschöpft in die Betten, bis zum letzten Abend. Eine Truppe von vier Mädchen und vier Jungs verabredeten sich auf dem Jungenzimmer. Inzwischen wölbte sich auch mein Laufshirt an zwei Stellen ganz nett. Jedenfalls nahmen wir Mädchenauf dem letzten Bett Platz und schauten aus dem Fenster auf den Schwarzwald. Wahllos setzten sich die Jungs uns gegenüber. Mein Pendant war der älteste der Truppe und der beste Sprinter. Neben seinem lockeren Laufstil bewunderte ich seine Oberschenkelmuskulatur. Unsere Knie berührten sich, es war ganz anders als sonst. Sonst fasste man sich auch mal an, wenn man einen Krampf im Bein hatte, so zur Notfalllockerung. Hinter der Fensterscheibe versank die Sonne zwischen den Tannen und er lächelte mich an, seine Zähne blitzten weiß, sie waren genauso makellos wie seine Oberschenkelmuskeln. Lässig steckte er seine Brille in die Brusttasche des Hemdes, dadurch wurden seine Augen riesig und plüschig bewimpert. Mein Gesicht bewegte sich auf ihn zu, wie von unsichtbaren Fäden gezogen. Kein Wort fiel. Die Lippen trafen aufeinander und wussten genau, was sie tun mussten. Er schmeckte nach meiner Lieblingsschokolade, Noisette. Seine Augen hatten auch diese Haselnussfarben. Sämtliche meiner Fragen lösten sich im Nichts auf. Nein, ich erstickte nicht, meine Nase war nicht im Weg und auch unsere Zähne krachten nicht aneinander. Ganz einfach und furchtbar gut war es. Wir waren ein einziger Mund, der sich liebkoste. Das hier war besser als jeder Sieg.
Irgendwann, ich vermute, nach sehr langer Zeit, mein Mund war ganz verschwollen, tobte mein Trainer ins Zimmer. Wütend packte er mich und schubste mich in mein Zimmer zurück. Schlafen konnte ich nicht, mein Herz trommelte die ganze Nacht in einem unbekannten aufregenden Takt. Am nächsten Morgen passte mich mein Übungsleiter ab. Auf der Heimreise musste ich neben ihm sitzen und die Trainingspläne durchsprechen. Von Ferne entdeckte ich schon meine Eltern am Busbahnhof. Bei ihnen lieferte mich mein Trainerhöchstpersönlich ab. Mein Blick suchte sein Gesicht mit den zarten Lippen, aber mein Trainer schob seine schlechte Laune dazwischen. Neben meiner Mutter trottete ich zum Auto und wusste von diesem Moment an, dass der Leistungssport für mich vorbei war. In der hessischen Kleinstadt ist mein Sprint-Rekord immer noch ungebrochen.
Ich laufe immer noch. Für gute Küsse laufe ich meilenweit, vor schlechten Küssen davon. Leider ist „laufend küssen“ keine olympische Disziplin! Eigentlich schade, oder?
Anne-Kathrin Meyer
Dreißig zum Ersten
"Auf zur zweiten Runde!“ kommentiert grinsend einer der Polizisten, die den Fuhrpark der Deutschland-Rallye beaufsichtigen, als ich sichtbar geschafft und leicht schnaufend den Aufstieg zur Adenauer- Brücke in Angriff nehme. Wenn der wüsste…!
Um halb sieben habe ich noch nicht geschnauft. Da war die Luft auch noch frisch und klar, und dünne Nebelschwaden waberten über dem Fluss. Aber die Sonne blitzte schon vorsichtig zwischen den Dunstwolken hervor. Was die Sonnenanbeterin freut, ist für die Läuferin eine Drohung: Sie ahnt, dass es sehr warm werden kann, wenn sie durchzieht, was sie sich vorgenommen hat: Einen "richtigen" langen Lauf! Einen, bei dem erfahrene Läuferinnen und Läufer anerkennend nicken und dich endgültig als ihresgleichenansehen. Einen, der Außenstehenden ein ungläubiges "Boah ey!" entlockt (und Bemerkungen darüber, dass sie diese Strecke neulich ja auch geschafft hätten, mit dem Rad natürlich!). Einen Lauf über die "magische Grenze" von 30 Kilometern!
Vor dieser Grenze habe ich einen Mordsrespekt. Natürlich habe ich mich in den letzten Wochen vorsichtig herangetastet, Läufe über 25, 27 und 28 Kilometer absolviert. Trotzdem: "30" – das ist Neuland für mich! Auch wenn ich mir sicher bin, dass ich's kann: Wie wird mein Körper reagieren? Und wie vor allem der Kopf? Etwa 3 ½ Stunden werde ich allein mit mir und meinen Gedanken sein. Wird das nicht doch irgendwann langweilig?
Egal! Alle Bedenken beiseite gewischt und auf geht's: Einmal Luxemburg und zurück! Die erste Hürde auf dem Weg besteht allerdings schon darin, auf den Moselleinpfad zu gelangen. Wegen der Rallye ist der Messepark gesperrt. Hier sind Techniker untergebracht und die LKW mit dem Equipment geparkt. Verschlafene Gestalten
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