"Ich laufe, um zu laufen ...": Eine Frauen-Laufen-Anthologie (German Edition)
Zelt verlässt. Die Beantwortung der Frage scheitert nicht nur am Lärm. Während eines Schmuselieds taucht bei Steffi die Frage auf, wie Ingos Lebendigkeit und sein Erfolg im Sport zu einer gewissen Feigheit vor allem sich selbst, aber auch seiner Frau gegenüber passen. Vermeintliche Gegensätze. Na, jetzt wird er wird sich erst mal freuen, in Ruhe ohne ihre Gegenwart durchatmen zu können. Wie oft hat er schon am Telefon von Renates Terror erzählt, den er schweigend erträgt, wenn überhaupt nur die Möglichkeit besteht,dass Steffi bei einer Veranstaltung auftauchen könnte. Das war noch nie zuvor der Fall. Dann löchert Renate ihn mit den immer gleichen Fragen zu seinem Betrug, durch den sie immer noch verletzt ist. Das kann Ingo sogar verstehen. Sie tut ihm auch leid. Sein Sport verleiht ihm auf jeden Fall schon seit Jahrzehnten die mentale Stärke, das Leben trotz seiner Prüfungen zu lieben. Auch wenn er Ursachen nie hinterfragt.
Das Lied geht langsam zu Ende. Eine Sekunde Verschnaufpause, bevor das nächste Stück beginnt. In genau dem Moment steht Ingo plötzlich vor Steffi. Seine Augen füllen sich mit Tränen. Ohne ein Wort zu sagen, tritt er noch einen Schritt näher. Er umarmt sie und hält sie dabei ganz fest. Dann küsst er sie direkt auf den Mund. Steffi lässt es geschehen. Sie weiß genau um die Intensität seiner Gefühle. In dem Augenblick spürt sie einen Schlag auf den Hinterkopf. Sie ist sofort benommen. Renate ist unbemerkt ins Zelt zurückgekehrt. Steffi realisiert gar nicht richtig, wie Ingo von seiner Frau am T-Shirt gepackt vors Zelt geschleppt wird.
Mit großem Sicherheitsabstand folgt Steffi wie ferngesteuert. Marco und Klaras Mann sind dichter am Geschehen. Renate tobt draußen in einer einsamen Ecke. Plötzlich liegt Ingo durch ihre Schläge am Boden. Er wehrt sich nicht. Marco zieht Klaras Mann wieder ins Zelt zurück. Steffi steht immer noch regungslos am Ausgang, Klara neben ihr. Steffi sagt nichts mehr. Sie möchte nur noch ins Zelt zurück. Schlafen.
Julia Mayer
Frei wie ein Vogel
Für Mama
Oft fragte sie sich, was sie hier hielt. An diesem Ort,
der kein Zuhause für sie bot, eher Gefängnis als trautes Heim war.
Vielleicht verband sie ja doch noch etwas mit diesem Wort. Zuhause.
Aber nur vielleicht. Sie dachte nicht gern darüber nach,
ihr Alltag war mit Dingen angefüllt,
die sie vor allzu tiefgründigen Gedanken schützte.
Manchmal hörte sie die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf,
die stets einen anklagenden Ton besessen hatte.
» Freiheit bedeutet Familie. Freiheit bedeutet,
den Alltag zu bewältigen. Und jetzt hör auf zu fragen.«
Sie durfte nicht fragen, sollte ihre Zeit nicht verschwenden,
und so war es nicht verwunderlich,
dass sie sich letztendlich in dem Käfig der Ehe befand,
gefangen wie ein Vogel mit gestutzten Flügeln und
unbrauchbaren, nie ausgelebten Träumen.
Gefangen zwischen den Stühlen einer lieblosen Beziehung
und zwei Kindern, die sie nie hatte haben wollen,
doch die nun ungeteilt ihre mütterliche Zuneigung erhielten,
blieb keine Zeit für Freiheit, geschweige denn für Träumereien.
Wenn sie nicht in der Kanzlei arbeitete, kochte,
putzte und chauffierte sie.
Jeder Versuch, ein wenig Privatsphäre zu erlangen,
wurde von den Menschen um sie herum erstickt.
Und oft genug wollte sie platzen, zerstören wie eine Bombe,
und schreien, weil sie nicht mehr wusste, wer sie überhaupt war.
Wenn sie in den Spiegel sah, blickte ihr eine Fremde entgegen.
Tiefe Furchen zogen sich wie Zeichnungen durch das
ergraute Gesicht, und sie fragte sich,
wo die junge Frau geblieben war, die noch gewusst hatte,
was sie wollte. Kein Stein ist ihr zu groß gewesen,
stets hatte sie ihn aus dem Weg zu räumen vermocht.
Das Fleisch zog es gen Süden, die Augen verschwanden
unter schwammigen Lidern und sie fand
nicht einmal mehr ihr Inneres in dem Hohlkörper,
der sie umschloss, wieder.
In Zeiten, in denen der Mensch sucht,
begibt er sich auf goldene Wege. Neu und spannend
liegen sie vor den neugierigen Nasen,
und der Gedanke, sie zu betreten, lässt das Adrenalin sprudeln.
Der gefangene Vogel kämpft gegen seine Gitter
mithilfe der Geduld.
Irgendwann wird sich die Tür öffnen, sagt er sich,
bis es soweit ist. Dann ist er frei.
Doch sie hatte es nicht so einfach.
Viele steile Pfade musste sie laufen,
durch Dornen und Unkraut, zwischen knorrigen Bäumen
und pieksenden Büschen hindurch.
Manchmal kreuzte ein Reh ihren Weg,
ließ ihr
Weitere Kostenlose Bücher