"Ich laufe, um zu laufen ...": Eine Frauen-Laufen-Anthologie (German Edition)
hatte Steffi bald gelernt, sich beim Laufen, egal wie weit, bis ins Ziel durchzukämpfen und vor allem niemals aufzugeben. Die sportlichen Erfahrungen konnte sie direkt aufs Leben übertragen. Diese erste Ostparty hatte also ihr Leben verändert. Als Mann hatte Ingo sie zuerst nicht interessiert. Er war wesentlich älter und auch verheiratet. Aber es gelang ihr nicht, seinem Werben zu widerstehen.
Eine Polonaise zieht sich durchs Zelt. Normalerweise tut Steffi solche Verirrungen als spießig ab. Marco will sich entziehen. „Nein, nicht hinsetzen! Nicht hinsetzen, wir müssen die Beine lockern! Ey,Spielverderber. Nicht aufhören. Komm, wir machen weiter!“ ruft Steffi gegen die Musik an. Die Schultern ihres Vordermannes fühlen sich feucht an. Egal! Trotzdem darf der Kommentar in seine Richtung nicht fehlen: „Nächstes Mal bringst du aber ein Wechsel-Shirt mit, oder?“ Der Unbekannte grinst zurück. Dann wird „John and Mary“, ein altes Lied von Robert Palmer gespielt. Es erinnert sie an ihre Pubertät. „Johnny is always running around, trying to find certainty, he needs all the world to confirm…” Melodisch beschwingt tanzt wieder jeder für sich durch den Raum. Steffi amüsiert sich plötzlich über ihre eigenen Gedanken: In Ingo ist sie einem real existierenden Idealisten begegnet. Seine DDR-Geschichten waren für Steffi spannende Zeitgeschichte, in die sie gerne eintauchte. Besonders gefiel ihr die Geschichte, als er offiziell auf Verwandtenbesuch war, sich aber beim Marathonstart im Westen in erster Reihe aufgestellt hatte. Am nächsten Tag wurde er von einem Schüler begrüßt: Herr Meyer, ich habe sie im Fernsehen gesehen.
Die ersten Töne von „Denkmal“ der Band „Wir sind Helden“ werden angespielt: „Das ist meins! Jawoll! Das passt!“, hüpft Steffi wie ein Kleinkind in Vorfreude auf das Lied durch die Gegend. Diesen Liedtext kennt sie ganz genau. Während sie ein Buch über ihre Liebe zu Ingo schrieb, wurde dieses Lied ständig im Radio gespielt. Mit seinem Text im Einklang wuchs damals ihre Hoffnung, mit dem Buch als Denkmal ihre Liebe endgültig zu zerstören. Aber sie erwies sich als hartnäckiger. Wie eine erneute Beschwörung grölt sie das Lied übertrieben lautstark mit. „Komm mal ans Fenster, komm her zu mir, siehst du da drüben hinterm Wellblechzaun, da drüben auf dem Platz vor Aldi haben sie unser Abbild in Stein gehau’n. Sie haben uns ein Denkmal gebaut. Und jeder Vollidiot weiß, dass das die Liebeversaut.“ Ingo weiß natürlich, was es mit dem Lied auf sich hat. Vielleicht kann er sich deswegen nicht dagegen wehren, nun doch ganz vorsichtig in Steffis Nähe zu kommen. Seine Frau tanzt an seiner Seite.
„Marco, guck’ dir das doch mal an! Das gibt’s doch nicht! Keinen Schritt kann er ohne ihre Kontrolle tun. Alles überwacht sie!“ „Da kann ich überhaupt kein Mitleid haben!“, sagt Marco. „Das ist doch sein Ding, wenn er das mit sich machen lässt. Er ist ein erwachsener Mann!“ Mit dem Kommentar ist das Thema für ihn erledigt. Er versteht sowieso nicht, warum Ingo sich noch immer meldet und Steffi auch noch auf ihn eingeht, obwohl die Beziehung schon lange beendet ist.
Als sie kurz darauf wieder mit Klara und ihrem Mann für eine Trinkpause am Tisch sitzen, sagt Steffi: „Renate guckt ständig her. Man, das nervt! Guck’ doch mal!“ Ingo und Renate stehen wieder in einer größeren Gruppe. Ingo im Mittelpunkt redet. Marco reagiert nicht, aber Klara begreift die Situation sofort. Sie kennt Ingo vom Sehen. Viele kennen ihn als erfolgreichen Läufer. Er ist immer in Bewegung und zu Scherzen aufgelegt. Der Sportlehrer aus Überzeugung liebt seine „Kinderchen“ und macht alle Übungen im Unterricht selbst mit. Krank war er nie, sondern springt sogar noch für fehlende Kollegen ein. In jüngeren Jahren wäre er gern zu internationalen Wettkämpfen in die ganze Welt gereist. Das hat dann jedoch nicht geklappt, da er nicht reisen durfte. Seit der Grenzöffnung holt er die Sportreisen nach und motiviert auch andere dazu. Mittlerweile steht aber der Spaß bei Wettkämpfen mehr imVordergrund. Wenn es sich in Gesellschaft ergibt, trinkt er sogar am Abend davor ein paar Bierchen.
„Huch, wie kommst du denn zu dem? Der wirkt doch… unscheinbar. Er ist doch auch älter als du? Und seine Frau?“, will Klara wissen. „Prost erstmal! Der Wein schmeckt doch richtig gut, oder?“ Klara hat eine eigene Flasche mit ins Zelt geschmuggelt und schenkt großzügig
Weitere Kostenlose Bücher