"Ich laufe, um zu laufen ...": Eine Frauen-Laufen-Anthologie (German Edition)
individueller Ehrgeiz werden das Läuferfeld noch ausreichend durchmischen. Früher oder später schaltet der Körper seine Bremsen ein, irritiert melden sich die Knochen. Durch einen Tunnel muss wohl jeder, egal wie lang und dunkel dieser für den einzelnen ist. Jeder, der hier mitgelaufen ist, kennt diese toten Punkte, die wahren Durststrecken, wie bei Kilometer 36 am Sperrhügel, wo alle Läufer Ameisen gleich den halb kahlen Berg hinauf krabbeln oder bei Kilometer 50. Allein, so allein gelassen ist man nirgendwo, wie hinter dem Grenzadler bei Oberhof.
Ein dumpfes Blockade-Gefühl strahlt ab jetzt in die Knochen aus. Da hilft nur noch der Rückgriff auf den Kopf, wo alles gespeichert ist. Der stählerne Willen wird nun ausgerollt, die Verselbständigung der Füße setzt ein. Und dann, auf der schein bar endlosen Horizontalen hinter dem letzten Verpflegungspunkt, tauchen im Tal zwischen den hohen Fichten die ersten Häuser von Schmiedefeld auf.
Es ist ein überwältigendes Gefühl, wie bei der Landung eines Flugzeuges. Das Ziel rückt schärfer ins Auge, und es verschwimmt zugleich, denn vor Freudentränen sind in diesem Moment auch Männeraugen nicht sicher. Überquerung der letzten Straße, und dann die letzten, die schönsten Meter, hinunter wie auf einer Rutsche, die umsäumt ist von schreienden, jubelnden, klatschenden Menschen mit Rasseln in den Händen. Ich reiße die Mütze vom Kopf und die Arme sind wie nach oben gewachsen, nach oben wie Äste. Meineunbändige Freude, mein Jubelschrei zündet, springt über, vermischt sich mit dem der anderen. Selten wird die Bedeutung „Ziel“ so plastisch wie in Schmiedefeld, dem Auffangnetz für 11 000 Lauffreudige. Ich habe es geschafft. 7 Stunden 33 Minuten. Und ich bin natürlich auch geschafft.
Das Experiment ist gelungen. Keine äußeren Schäden. Nicht eine Blase, nur ein dumpfes Gefühl in den Beinen und im Kopf. Mein persönliches Fazit: Ausdauer kann gespeichert, muss aber optimal mobilisiert werden. Das hatte ich anscheinend getan. Dabei ist das Geheimnis des Durchhaltens ganz simpel: Ein starker Willen, Zerlegung der Strecke in sechs oder sieben Teil-Etappen sowie ein Paar „gute Schuhe“.
Nebenbei bemerkt: meiner Jugendliebe, die ich vor dem Großen Beerberg einholte, wollte ich eigentlich nie mehr nachlaufen, aber der Rennsteiglauf lässt eben alle Vorsätze auf seine ganz eigene Art und Weise platzen….
(1995)
Nach Schmiedefeld
Von einem Fangseil
deines Willens
fest umzingelt
zieht dich das Ziel,
in das dein Kopf schon längst voraus katapultierte,
zu sich heran.
Den mürben Atem
in die Tannen stoßend,
die wundgelauf‘nen Zweifel in die Gräben werfend
ziehst du
als Laufmasche
des Weges.
Schon schreit das Tal vor dir,
die Zielgerade
spießt dich auf,
zerschneidet
messerscharf
dein Hirn,
und schleudert dich
hinab - hinein
ins schäumende Überlauf-Becken
der Endorphine.
Er-laufen und Er-fahren
Ich laufe. Kurs Nordwest. Starker Gegenwind. Ich laufe nach England. Durch Sachsen, Thüringen, Hessen, Westfalen, durch Holland, Belgien… Sicher, irgendwann wird sich mir der Ärmel-Kanal in den Weg stellen. Aber mit viel Anlauf werde ich den Sprung wohl schaffen. Vielleicht, wenn der Wind sich dreht und mir kräftig in den Rücken bläst…
Zwei Jahre lang habe ich mich gemeinsam mit 60 anderen Dresdner Läufern auf diesen Lauf vorbereitet. Geistig und körperlich. Auf denStädtepartnerschaftslauf von Dresden über Rotterdam nach Coventry. 1350km im Laufschritt. Wie sollte das funktionieren? Die Lösung lag in der gegenseitigen Ablösung. Vier Gruppen zu je 14 Personen, begleitet von jeweils zwei Kleinbussen, wechseln sich im Sechs-Stunden-Rhythmus ab. Eine besondere Annäherung dreier Städte, die ein gemeinsames Schicksal verbindet: die Zerstörung im Zweiten Weltkrieg. Die Grußbotschaft unseres Oberbürgermeisters an die Partnerstädte mit im Gepäck, wollten wir, eine Kette von Läufern, in der jede Perle ihren besonderen Wert hat, auf diese Weise Fäden zwischen den Städten spinnen.
Siebenschläfer 1996. Schwüle hängt über Sachsen. Stickige, von Gewitterwolken durchsetzte Nachmittagsluft saugt den Schweiß schnell aus uns heraus. Das erste Läuferpärchen ist schon auf den Beinen. Mit geöffneter Tür fahren wir im Kehrmaschinentempo, und unsere Blicke fangen sich im blühenden Klatschmohn fest. Leute in Gärten und Mütter mit Kleinkindern schauen uns nach. Hundegekläff hallt in unseren Ohren und die
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