"Ich laufe, um zu laufen ...": Eine Frauen-Laufen-Anthologie (German Edition)
„Ich-habe-keine-Angst- Stimmung“. Spätestens hier lösen sich Geschwindigkeiten und Kilometerzeiten in Luft auf.
Bei Kilometer 81 gibt es die nächste Verpflegung. An dieser Stelle hat man die Möglichkeit, einen im Vorfeld abgegebenen Beutel mit persönlichen Sachen, entgegenzunehmen. Neue Schuhe, Socken und Klamotten haben wir hier stationiert. Da ich aber meine Füße gar nicht sehen will, bediene ich mich nur an den “Fressalien“, die mein Beutel hergibt. Die kurze Pause bringt mir im Gegensatz zu Rolf und Andy nicht die erhoffte Erholung. Die Männer scheinen noch vor Kraft zu strotzen. Ich behinne so langsam zur Bremse zu werden. Meine rechte Hüftbeugemuskulatur hört nicht mehr so richtig auf mich. Egal! Das letzte Stückchen soll nur noch ein simpler Marathon sein. Außerdem verspricht das Streckenprofil ganz viel „downhill“. Pustekuchen! Wenn „downhill“, dann so extrem, dass es schmerzt und sicheres Schneckentempo angesagt ist.
Die zweite Nacht steht bevor. Mit der Nacht kommen zuerst die notwendigen Batteriewechsel der Stirnlampen und erneuter Regen. Die Nässe auf Klamotten und Körper sind weniger problematisch. Was uns zusetzt, ist der enorm glitschige, rutschige, schlammige Untergrund. Steile Abhänge werden zur schwer einschätzbaren Gefahr. Ich bin froh, beide Männer bei mir zu haben, die mir Hand reichend über Schluchten, Kanäle und Schlammhänge helfen. Dass wir regelmäßig komplett im Schlamm liegen, ist nicht schlimm. Rolf entsorgt seine Handschuhe, die unbrauchbar zugeschlammt sind. Unsere Schuhe sind mit klebrigem Lehm so behaftet, dass das Laufen sich anfühlt, als ob wir kiloweise Blei mitschleppen. Viele zähe Kilometer kämpfen wir uns so durch. Im Schlepptau haben wir einen jungen Equadorianer, der allein völlig überfordert wäre. Wir helfen ihm über die schwierigen Passagen. Jede Hilfestellung, jedes Ausleuchten des Weges, jeden warnenden Hinweis belohnt er miteinem „Danke“ in Spanisch, in Deutsch, in Englisch. Unglaublich, aber für je 100 Meter dieser Strecke in der Dunkelheit benötigen wir 20 bis 30 Minuten. Trotz des nervenaufreibenden Zeitverlustes gibt es für uns keine Frage: wir kommen innerhalb des Zeitzieles von 30 Stunden ins Ziel! Unsere Zielzeit ist uns völlig egal – „Ankommen“ ist unser Ziel, mein Traum! Später erfahren wir, dass direkt, nachdem wir diesen gefährlichen Abschnitt bewältigt haben, die Strecke gesperrt und die nachfolgenden Läufer umgeleitet werden.
Ein Teil der letzten 20 Kilometer führt durch ein gerölliges Flussbett, wo ich noch mal recht gut voran komme. Meine Hüftmuskulatur, so erfahre ich langsam, wird allerdings das letzte Wort sprechen wollen. Mein Kopf steht dagegen. Ja, im Kampf mit mir selbst gibt es auf den letzten Kilometern heimliche Tränen, lautstarkes Fluchen, Abschwören meines Hobbys… In meinem tiefen Inneren bin ich aber kein einziges Mal auch nur annähernd dem Gedanken verfallen, abzubrechen. Ich danke Rolf und Andy, die mich im Schlepptau geduldig begleiten und vor allem Andy, der mich auf den letzten Kilometern stillschweigend erträgt. Nach 27 Stunden und 42 Minuten spuckt uns die Insel kurz vor 3.00 Uhr am Morgen am Strand von Las Palmas wieder aus. Zu diesem Zeitpunkt sind wir seit ca. 47 Stunden wach. Hatte ich zuvor geglaubt, dass die Müdigkeit zum Problem werden könnte, kann ich im Nachhinein sagen, dass ich zu keiner Zeit das Empfinden hatte, ich müsste jetzt endlich mal schlafen. Im nächsten Jahr lass ich allerdings die Männer voraus laufen… sollen sie sich austesten.
Unter den 282 Startern beim Transgrancanaria befanden sich neun Deutsche. Das Ziel erreichten 191 Läufer. Fast ein Drittel der Heldenmusste vorzeitig aufgeben. Von den 22 gestarteten Frauen, beendeten 16 Läuferinnen das Rennen. Ich trage einen zweiten Platz in meiner Altersklasse mit nach Deutschland zurück. Langsam beginne ich zu realisieren und genieße noch im Nachhinein mein fast 28-stündiges Urlaubsglück. Es war ordentlich hart und doch irre schön! Inzwischen heilen die Blasen an den Füßen, der Schmerz ist vergangen, aber der Stolz bleibt. Ich bin glücklich und danke allen, die mir die Daumen gedrückt und an mich gedacht und geglaubt haben.
Claudia Voss
Go with the flow
– oder den Dingen ihren Lauf lassen
Meine Beziehung zum Laufen ist eigentlich nicht so sportlich und spektakulär schon gleich gar nicht. Es stimmt schon, dass ich, seitdem ich noch zu Studienzeiten mit dem Rauchen aufgehört
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