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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison McGhee
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lustig.«
    » NEIN .« Ich stoße ihn weg. So heftig, dass er im Mittelgang landet. Da hockt er, und eine halbe Sekunde lang ist seine Miene ganz offen. In dieser halben Sekunde huscht etwas über sein Gesicht, ein Gefühl. Er ist verletzt. Wieso die anderen und ich nicht? Stimmt was nicht mit mir? Das denkt er in dieser halben Sekunde, und ich schicke ihm einen Gedanken zurück: Es hat nichts mit dir zu tun; nur mit mir. Aber laut sagen kann ich das nicht. Die halbe Sekunde ist vorüber, und er läuft dunkelrot an vor Wut. Zornesröte steigt vom Hals an aufwärts, überschwemmt sein Gesicht, und die Augen werden zu schmalen Schlitzen. Er springt auf die Füße. Alle sehen ihm zu.
    »Du bist so ein Miststück, Rose, weißt du das?«
    Er ballt die Faust. Er muss sich zwingen, mich nicht zu schlagen.
    »Ein dreckiges Miststück bist du«, sagt er, und damit dreht er sich um und geht durch den Gang, dahin, wo Todd sitzt und zu mir herübersieht, mit demselben schlitzäugigen Blick. Und Warren. Und Jimmy, der starr nach vorn guckt.
    Jetzt kommt Bewegung in den Bus, Stimmengemurmel setzt ein, breitet sich langsam aus, schlägt über mir zusammen. Ein grüner Truck fährt auf einmal neben dem Bus. Das Grün ist matt von vielen Wintern, von Sand und Salz und Schnee, der Truck bleibt auf gleicher Höhe mit dem Bus, hier auf der Route 274 in den Ausläufern der Adirondacks, wo Katie uns ausspuckt, einen, dann noch einen, auch schon mal zwei auf einmal. Tom Miller, direkt neben meinem Fenster, hält Schritt mit dem großen gelben Bus.
    »He!«, brüllt Katie, ihre Stimme das vertraute Grunzen. »Hau ab! Hier gibt's Gegenverkehr!«
    Hinter dem Fenster des grünen Trucks winkt eine Hand, Finger klopfen an die verschmierte Scheibe. Von meinem Ausguck auf dem Plastiksitz, der genauso grün ist wie der Truck, schaue ich hinunter auf den gestikulierenden Tom Miller. Sein Mund formt stumme Worte.
    Rose?
    Tom klopft wieder. Er lenkt mit einer Hand, bleibt immer auf einer Höhe mit meinem Fenster. Katie ist stinksauer, sie fuchtelt mit dem Arm in der Luft: Weg da!
    Rose?
    »Rose, das ist Tom Miller«, sagt Tracy Benova wichtigtuerisch. »Rose, das ist Tom! Der will was von dir!«
    Auf einmal sind Toms Finger nicht mehr an der Scheibe. Das verschmierte Glas wird durchsichtig, die Scheibe verschwindet in ihrer Nische in der grünen Tür des Trucks. Jetzt sind Toms Finger ganz echt, lang und kräftig, und das braune Haar fällt ihmin die Augen, die weder braun noch blau sind, sondern dunkelgrün mit gelben Sprenkeln. Seine Stimme nimmt Gestalt an, deutliche Worte treiben in die blaue Stille des Himmels. Jeder im Bus kann ihn hören.
    »Rose!«
    Katie schüttelt die Faust. Katie ist wütend. Schüler, die auf der anderen Seite vom Bus gesessen haben, drängen sich zu denen auf meiner Seite: Drama im Schulbus, bloß nichts verpassen. Ein Einakter, aufgeführt auf der Route 274. Sie drücken die Gesichter an die Scheiben, die mit einem bräunlichen Staubfilm überzogen sind.
    »Rose!«
    Ich ducke mich weg, drehe mich zur Seite, wechsle hinüber auf die inzwischen leere Seite vom Gang, entferne mich unauffällig aus dem Rückspiegel der laut schimpfenden Katie mit dem rot angelaufenen Gesicht. Bloß Tom Millers ausgestreckte Hand nicht mehr sehen. Im Führerscheinhandbuch steht, in konfliktträchtigen Situationen sei es besser, Augenkontakt mit anderen Fahrern zu meiden. Bewahren Sie unbedingt die Ruhe. Suchen Sie nach einer Möglichkeit, sich gefahrlos zu entfernen. Lassen Sie die Situation nicht eskalieren. Warum? Weil es jederzeit zu einem Unfall kommen kann. Ich schaue angestrengt durch das neue Fenster auf das Grün der Maispflanzen, die sich im leichten Juniwind wiegen. Auf der anderen Seite zeigen die Schüler aus North Sterns mit den Fingern, sie quasseln und lachen und winken Tom Miller zu, dessen Wagen halb im Straßengraben hängt. Seine Finger versuchen, den Sommerhimmel in sein Auto herunterzuziehen. Weiter vorn im Bus sitzen Jimmy und Warren und Kevin wie erstarrt und sagen kein Wort.
    Dann bleibt der Bus stehen.
    Ich kann nicht aufhören zu weinen.
    Eine Hand.
    Ich bekomme keine Luft.
    Eine Hand zieht mich auf einen Sitz. Tom Miller zieht mich nach unten. Ich sitze. Jemand sagt etwas, was ich nicht verstehen kann. Meine Ohren haben dichtgemacht. Tom steht halb auf.
    »Verpiss dich«, sagt er.
    Ganz still ist es im Bus, doch dann sind da Geräusche. Normale Busgeräusche: Reden, Flüstern, Streiten, spitze Schreie, Gemurmel.

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