Ich lebe lebe lebe - Roman
weiß ich nicht mehr, was es war.
»Sie ist nicht offiziell hirntot«, sage ich. »Sie hat noch immer einen Atemantrieb.«
Joe sagt nichts. Die Sonne schickt ein paar letzte Strahlen durch die schmutzigen Fenster, doch sie geht jetzt schnell unter.
»Einen leichten«, sage ich.
Sie haben das Beatmungsgerät abgeschaltet und gewartet.
Gewartet.
Gewartet.
Gewartet.
Und dann hat sie versucht zu atmen.
Meine Mutter, meine dünne, nervöse, mit den Fingern trommelnde Mutter, hat meine Schwester neun Monate in sich getragen und dann hinausgepresst in die Welt. Meine Mutter, die ihre Tage damit verbringt, Flaschen aufzurichten, Ordnung in ein Zwölf-Fuß-Quadrat in der Brauerei von Utica zu bringen. Die dem Arzt weinend klarzumachen versucht hat, dass sie ihre Tochter nicht verlieren könne.
»Sie hätten sie sterben lassen sollen«, sagt Joe.
Er steht wieder hinter der Theke und sieht mich mit diesem merkwürdigen Blick an. Ich hätte gedacht, der Fußmarsch bis zur Kfz-Werkstatt, fünf Meilen nach Norden, hätte gereicht, um das Wasser in mir zu beruhigen. Doch nein.
Ivy und Joe waren fließendes Wasser, und sie bewegten sich gemeinsam, ihre Körper trieben aufeinander zu, sie dachten nicht erst nach, sie ließen sich nicht aufhalten, sie wollten sich bewegen, zusammen bewegen, und so taten sie es auch. An Sommerabenden kam Ivy spät nach Hause, dann legte sie sich ins Bett und schlief gleich ein, ihr sanfter Atem hob und senkte sich und vermischte sich mit der zarten Sommerbrise, während ich in meinem Bett auf der anderen Seite des Zimmers lag, nicht frei, kein Teil der Welt, nicht so, wie sie es war, wie sie es immer gewesen war. Sie war der Fluss in der Schlucht von Sterns, wild dahinströmendes, dunkles, flaches Wasser, ich bin der Hinckley-Stausee, stehendes Gewässer, eingebettet zwischen hohen Ufern.
Einmal habe ich abends beobachtet, wie Joe Miller sich über Ivys Fuß beugte. Das war ebenfalls im Heuschober, und Joe wollte Ivy und mir beibringen, wie man Bier aus der Flasche trinkt, und zwar wie ein Kerl. Wir waren sechzehn und siebzehn.
»Ihr wollt ja wohl nicht wie ein Mädchen trinken«, sagte Joe. »Mädchen legen den ganzen Kopf in den Nacken.«
Er machte es uns vor. Na und? Was war denn so schlimm daran, wenn man beim Trinken den Kopf in den Nacken legte?
»Wie ein Kerl müsst ihr trinken«, sagte Joe. »Passt auf.«
Er kippte die Flasche, aber sein Kopf blieb gerade. Eine Hand kippte die Flasche, und das Bier floss ihm direkt in den Mund. Ich sah, wie er schluckte. Ich sah Ivy zu, wie sie ihm beim Schlucken zusah. Das ist einfach so bei den Millers. Man kann sie nicht nicht ansehen, ihre Körper beobachten, ihre Muskeln und Knochen, während sie sich durch die Welt bewegen, wie es ihnen gerade gefällt.
»Versuch's mal.«
Er hielt mir die Flasche hin.
»Nein, du legst immer noch den Kopf in den Nacken. DieFlasche musst du schief halten, nicht den Kopf. Lass Ivy mal probieren.«
Ich gab Ivy die Flasche.
»Gut.«
Ivy trank noch einen Schluck und lächelte ihn an. Er lächelte zurück, sein typisches Joe-Lächeln – bei dem nur der eine Mundwinkel nach oben geht. Ich sah ihr zu, wie sie ihn ansah, und sah ihm zu, wie er sie ansah. Dann senkte er den Kopf und nahm ihren Fuß. Ihren Fuß mit den wie immer violett lackierten Fußnägeln. Jeden Sonntagabend machte sie das: den alten ab, den neuen drauf. Seine Finger schlossen sich um ihren Fuß, mit beiden Händen umfasste er ihn, so als liebte er ihn, diesen braun gebrannten Fuß mit dem abgeblätterten violetten Nagellack.
Nach dem Unfall ist Joe verrückt geworden. Auf andere Art als sonst bei den Miller-Jungs, wenn sie durch ihre verrückten Phasen durchmüssen. Ich weiß noch, wie ich einmal bei uns in der Küche am grünen Tresen stand und für meine Mutter Kaffee machte, und als ich aufsah, stand Joe auf der Veranda und schaute durch das Fenster in der Tür zu mir herein. Es war früh am Morgen. Es war erst drei Tage her. Sie hatten gerade die Tests gemacht.
Er stieß die Tür auf und kam herein und blieb auf der Fußmatte stehen. Wartete. Sein Körper schien schon die nächste Bewegung machen zu wollen, doch Joe musste warten, weil die erste noch nicht ganz zu Ende gebracht war.
Joe sah mich an. So mag ein Bisam schauen, der in einer Falle festsitzt. Der um sich herum die Bäume und das Gras und den Bach sieht, alles, wo er so gern sein will und wo er nicht hinkann – und wenn er den Blick senkt, um sich zu erholen vom Anblick
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