Ich lebe lebe lebe - Roman
all der Orte, an die er nicht gelangen kann, all der Orte, die er immer für so selbstverständlich gehalten hat, sieht er dieEisenfalle an seinem Bein. Man würde verstehen, warum sich der Bisam am liebsten sein eigenes Bein abnagen würde.
Joe Miller würde sich das eigene Bein abnagen.
»Wie geht es ihr?«
Er wartete, so wie es seine Art war, alle Muskeln angespannt, alle Muskeln startklar. Quer durch die Küche sah er zu mir hin, ohne einmal die Augen niederzuschlagen. Er wartete. Ich blieb stehen, wo ich stand. Drei Tage lang hatte ich am Bett meiner Schwester gesessen. Hatte ihre Hand gehalten, ihr das Haar aus der Stirn gestrichen, dem Teil der Stirn, der unter dem Verband hervorschaute.
Wie geht es ihr?
Seit drei Jahren waren Joe und Ivy zusammen gewesen.
Ich schüttelte den Kopf. Im nächsten Moment war Joe Miller weg, zur Tür hinaus und in seinem Truck. Endlich wieder Bewegung für seinen Körper.
8
Der Backstein der Sterns High School in meinem Rücken fühlt sich warm an. Der letzte Schultag ist fast zu Ende. Fast Zeit, nach Hause zu gehen. Fast Zeit, dass William T. mich abholt. Fast Zeit, in die Stadt zu fahren, zu Ivy, bei ihr zu sitzen, ihr aus dem Führerscheinhandbuch vorzulesen. Ich ziehe die Knie an und schlinge meine Arme darum. Da steigt der Schrei in mir auf, elektrischer Strom läuft mir durch Arme und Beine, prickelt, sticht mir ins Herz mit kleinen Punkten von Ausrufezeichen. Wie bin ich hierhergekommen? Wie kann das sein, dass die Zeit meine Schwester und mich hochgehoben hat, im März, dann eine Weile einfach stehen blieb und mich dann wieder absetzte, hier, im Juni, nur mich, nur Rose?
Um in dieser Welt leben zu können, musst du Auto fahren können. Aber ich fahre nicht.
Unten im Pflegeheim Rosewood bläst ein Beatmungsgerät meiner Schwester mit einem feinen Säuseln Luft in die Lungen.
»Sie hätten sie sterben lassen sollen«, hat Joe Miller gesagt. »Sie hätten sie gehen lassen sollen.«
Manchmal kann ich ihn fühlen, den Schmerz der ganzen Welt, wie er sich in mir zusammenballt. Und wenn er mich überkommt, dann bin ich meine über ihre Topflappen gebeugte Mutter, dann bin ich Joe Miller, der alles tun würde, dann bin ich Chase Miller, der nie wirklich nach Hause gefunden hat vonVietnam, dann bin ich William T., der seinen Sohn verloren hat, dann bin ich ein winziger unberührbarer Garten, dann bin ich ein Mädchen, das über sich schwebt, während es mit den Jungen am Fluss ist, dann bin ich ein zu einem Ball fest zusammengepresstes, fest umklammertes Mädchen, in dem das Wasser immer höher steigt, überfließen will. Doch es weiß nicht, wohin, da ist nichts, kein Fluss, in den es hinabstürzen, kein Meer, in dem es verschwinden könnte –
Etwas Weißes schwebt durch die Luft. Die Fünftklässler der Grundschule von Sterns, unten am Hang, lassen Ballons steigen. Ballons mit unbekanntem Ziel und mit kleinen Briefchen darin, losgelassen in der Hoffnung, dass Wochen später irgendwer, irgendwo eines Morgens aufwacht und einen Luftballon herabschweben sieht. Ganz langsam lässt der Ballon sich auf die Fensterbank jenes Menschen sinken, und jener Mensch in einem fernen Land wird die müde alte Luft aus dem müden alten Ballon lassen. Ruh dich aus, Ballon, du musst ja völlig erschöpft sein von deinem Flug. Was haben wir denn hier , mag diese fremde Person in einem fremden Land in ihrer fremden Sprache denken, von wem mag das kommen?
Ob die Mutter des Babys in seinem Binsenkörbchen in Pompeji eine Nachricht hinterlassen hat? Hat sie noch kurz innegehalten? Rasch ein paar Worte hingekritzelt in Latein, die jemand, den sie liebte, später finden sollte?
Die weißen Ballons steigen zitternd in den Himmel hinauf, immer höher fliegen sie. Anfangs bleiben alle noch dicht beieinander. Dann fängt der Wind erst einen, dann noch einen, und auf einmal zerstreuen sie sich.
An jenem Abend im Heuschober hat Joe Ivy angestachelt.
»Bist du feige? Hast du Schiss?«
Sie hat ihm das Kinn entgegengereckt. Das ist Jahre her, wirwaren noch jünger, Ivy und Joe sollten erst noch lernen, was sie übereinander und über sie beide zusammen lernen sollten. Bevor ich lernte, was es mit dem Higgs-Teilchen und Pompeji und der kleinen Stadt Hinckley und der dunklen Materie auf sich hatte. Vor dem glaslosen Fenster hatte der Himmel sich verfärbt, fast violett war er, wie eine zerquetschte Pflaume. Und darüber hing – weiß und weit oben – der Mond.
»Lass den Quatsch«, habe ich zu
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