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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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wo steckt er denn?« – »Ah, ich wette, er sitzt im Schrank.« Drei, vier solche Durchgänge schafften wir maximal, dann kam Simon uns abhanden.
    Trampolinspringen ging dagegen fast immer, zum Glück mochten das die meisten. Da Simon natürlich nicht redete, keinen Blickkontakt hielt und keine Aufforderungen wie: »Und jetzt rückwärts« mitmachte, stand ich vor dem Sprungtuch, moderierte und coachte.
    Spazierengehen ging auch. Eine unserer Sternstunden erlebten wir dabei mit Sarah, die schon ein wenig älter war als Simon, selbstsicher und burschikos, und der auf dem Weg die brillante Idee kam, sie sei eigentlich ein Hund. Fortan legte sie die gesamte Strecke durchs Dorf auf allen vieren zurück, und Simon folgte ihr überraschend willig krabbelnd. Ich legte Sarah eine improvisierte Leine um – meinen Gürtel –, und sie erfreute Simon wieder und wieder damit, dass sie an jedem Sicherungskasten und Laternenpfahl das Bein hob und Pinkelgeräusche von sich gab: »Schschsch.« Da waren wir alle eine halbe Stunde am Stück glücklich.
    Ansonsten: Ballwerfen, einmal hin-her-hin-her, dann hebt Simon den heruntergefallenen Ball nicht mehr auf und geht weg. Oder Sandkasten: Eine energische Oma leitet dort ihre Enkelinnen an, mit Sätzen wie: »Wir bauen eine Burg … und jetzt noch einen Turm für die Burg, … der Zweig, das wird die Fahne!« Unter den aufmunternden Rufen: »Seht nur, wie hübsch« bauen die Mädchen und sammeln und sehen und freuen sich. Simon nahm im Sandkasten nie eine Schaufel in die Hand, als hätte er keine Kraft in den Händen. Wenn ich für ihn grub, ging er fort. Er sammelte nur Zweige, wenn man neben ihm herging und ihm befahl, diesen einen Zweig, der da unter dem Baum lag, jetzt und sofort aufzuheben. Ob er überhaupt verstand, was eine Burg war, was eine Fahne, ich wusste es nicht. Ich redete und redete und hörte meine Wörter in ein tiefes Loch fallen. Nie erklang ein Aufschlag, nie kam eine Reaktion.
    Erst Jahre später sollte ich merken, dass Simon alles, aber auch alles gehört hatte. Doch jetzt stand er am Sandkasten, in dem ich mich abmühte, obwohl ich nicht die geringste Lust hatte, irgendwelche Förmchen in den Boden zu drehen. Eine Weile betrachtete er alles aus den Augenwinkeln. Dann ging er schaukeln und rief, damit ich ihn anschubste. Egal, wie oft ich ihm die Schaukelbewegungen erklärte, er ahmte sie nie nach. Bis er auf einmal selbständig losschaukelte, so mit sieben.
    Oder »Mensch ärgere dich nicht«: Wir stellen die Figuren auf, erklären jeden Handgriff, den Sinn des Spiels. Das allein dauert ewig. Dann folgen zwei, drei Züge, Simon steht auf und geht weg. Manchmal kann man ihn zurückholen für ein paar weitere Züge, manchmal schreit und schlägt er. Selbst wenn er zurück ans Spielbrett kommt, macht es das nicht besser: Sein Desinteresse am Spielverlauf, an der Position der Figuren, dem Risiko, geschlagen zu werden, an so etwas wie gewinnen oder verlieren ist so offensichtlich, dass man einfach müde wird. Nach wenigen Minuten räume ich die Figuren wieder ein und schlucke die Enttäuschung hinunter.
    Man rannte nicht gegen eine Wand, wenn man Simon zu motivieren suchte, man rannte in ein Nebelfeld und stand orientierungslos im Nichts. Zwei, drei solche Ansätze, und man war so gelähmt und frustriert, dass man sich am liebsten schlafen gelegt hätte. (Das hätte man ohnehin dauernd gerne, da man ja keine Nacht durchschlief.) Das Schlimmste dabei war, dass jeder dieser Spielversuche höchstens 15 Minuten dauerte – der Nachmittag bestand jedoch aus sechs langen Stunden!
    Sicher, da gab es Dinge, die Simon mochte: Sachen werfen, irgendwohin, nicht zu jemandem, der das Ganze returnierte. Oder Fernsehen, nachdem er seine lange Aversion dagegen überwunden hatte. Aber auch das war mehr als zermürbend. Videos, immer dieselben, die er sich Stück für Stück in vielen Wiederholungen und Rückspulungen eroberte. Und dann eroberten die Teletubbies sein Herz. Möglicherweise, weil auch sie nur sehr reduziert sprachen. Andere Kinder sahen so etwas mit zwei, drei, vier Jahren. Simon schaute sie mit sechs, stundenlang. Als ich die »Teletubbies« das erste Mal sah, war ich platt vor Staunen. Dass es so etwas gab, diese Langsamkeit und Redundanz. Diesen Moment, in dem alle jubelten: »Noch mal, noch mal.« Und die Sequenz

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