Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
kann?« Da hätte sie erst beiläufig fast eine Seele zerbrochen, und dann das. Diese Frau hatte nichts, aber auch gar nichts verstanden!
Mit dem Hinweis »aber nur, wenn ihr euch benehmt«, wurden Simon und Frau Kaarmann im Februar an ihrer SchlieÃerin vorbei wieder ins Klassenzimmer gelassen. Es muss gewirkt haben wie die Entlassung eines Sträflings aus der Einzelhaft. »Absurd«, sagte Frau Kaarmann.
Im Klassenzimmer saà sie links neben Simon, da er Linkshänder ist und sie ihm die Hand bei den Schreibversuchen führte. Sie bekam erst mal Bandscheibenbeschwerden vom ewigen Hinüberneigen. Simon dagegen hockte wie festgewachsen dicht an ihrer Seite, als könne er durch ein wenig mehr Abstand den Halt verlieren. Das Lehrmaterial, das sie von der Schule bekam, bereitete Frau Kaarmann so auf, dass Simon es besser wahrnehmen konnte: hochkopiert, mit möglichst wenig Inhalt auf einer Seite. Sie wies die Lehrerin darauf hin, wenn Simon sich meldete, und wiederholte seine geflüsterten Worte laut für alle. Die zwei bemühten sich, sie kamen dennoch auf keinen grünen Zweig. Eine Lehrerin, die ihre Klasse durch überfallartiges Anschreien im Zaum hält, die nie lobt, kleine Zeichen der Aufmerksamkeit übersieht und so grob denkt, wie sie agiert, ist für Autisten einfach nicht geschaffen.
Zudem zeichnete sich ab, dass Simon das Schreiben nicht lernen würde. Seine Buchstaben waren und blieben riesig und zittrig. Er malte seine Reihen zwar wie die anderen, aber man konnte deutlich sehen, wie die einzelnen Buchstabenkrakel nicht besser, sondern von Mal zu Mal schlechter wurden. Ein-, zweimal bekam er sie hin. Dann riss der innere Faden, und sie wurden spiegelverkehrt, wanderten aus den Zeilen, vergröÃerten und veränderten sich bis zur Unkenntlichkeit.
Mit dem Lesen oder dem Sprechen nach Aufforderung klappte es auch nicht. Auf die Frage: »Was steht da?«, bekam man niemals eine Antwort. Heute wissen wir, dass Simon das als Autist nicht möglich ist. Heute wissen wir auch, dass er vermutlich längst lesen konnte; im Rückblick habe ich Hinweise darauf, dass er das schon mit vier Jahren beherrscht hat. Aber damals standen wir ratlos da: Konnte er die Zeichen nicht erkennen? War das Zusammenfügen von Buchstaben zu Wörtern, gar zu Sätzen zu viel optischer Input? Es gibt Autisten, denen das Lesen tatsächlich unmöglich ist, sie bewältigen den Schritt von einzelnen Buchstaben hin zu gröÃeren Sinneinheiten nicht. Und dann wieder gibt es andere, die ein fotografisches Gedächtnis haben und eine ganze Buchseite mit einem kurzen Blick komplett aufnehmen können.
Wo innerhalb dieses breiten Spektrums stand Simon? Wir wussten es nicht. Die Lehrerin schrieb ihm ein Zeugnis voll sarkastischer Unverschämtheiten, das ihn zum Idioten stempelte. Frau Kaarmann riet: Raus dort, und zwar schnell.
Es blieben uns kaum Wahlmöglichkeiten. Wir wandten uns schlieÃlich an die Georg-Zahn-Schule in Erlangen, ein »Zentrum für geistige Entwicklung« der Lebenshilfe. Eine Schule, an der geistig behinderte Kinder unterrichtet wurden. Der Ort, vor dem wir uns immer gefürchtet hatten. Und doch der erste seit langem, an dem wir willkommen waren. Man hatte Verständnis, reagierte schnell. Nach den Osterferien schon durften wir kommen.
Und wir waren dankbar dafür.
»Hier ist eine Mutter«
In den folgenden Wochen durchliefen wir in rasender Geschwindigkeit eine Entwicklung, die vor allem von zwei Aspekten geprägt war. Die Schulfrage war der brennende Topf, der als Erstes gelöscht werden musste. Wenn Simon dort gut aufgehoben sein würde, wenn er die Welt wieder begriff und akzeptierte, konnte auch unser Leben wieder ins Lot kommen, ein bisschen wenigstens. Seine Anfälle würden vielleicht etwas weniger werden, Jonathan würde aufhören können, in seinem Zimmer Jakobs Kampf mit dem Engel Werner zu führen. Unsere ständige Müdigkeit würde nachlassen, der Schwindel, die Angst. Es wäre wieder ein wenig Leben möglich, wenn auch nur in dem Rahmen, den das Zusammenleben mit einem Autisten vorgibt.
Der andere Aspekt hatte mit uns zu tun, mit unserem Hineinwachsen in das Eltern-eines-behinderten-Kindes-Sein. Das »B-Wort« war bei uns bisher selten gefallen. Wir hatten eine riesige Scheu davor gehabt, uns gefürchtet und auch geschämt. Heute kann ich das gar nicht mehr nachvollziehen. Klar
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