Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
Allerdings war es schwierig, den Einkaufswagen zu beladen, weil Simon mitten drinsaÃ, andernfalls wäre er mir alle Augenblicke davongelaufen und hätte Waren aus den Regalen gezogen oder vernichtet. Als er gröÃer wurde, lieà das Sitzen im Wagen nicht mehr viel Platz für Lebensmittel, die ich nach einem ausgeklügelten System um ihn herum und auf ihn drauf schichtete. AuÃerdem folgte daheim unweigerlich der Marathon des Autoausräumens, bei dem Simon ständig hinter mir herrannte, rein und raus, oder weinte, weil ich weg war oder er irgendetwas wollte.
Zum Glück gab es drinnen ja auch genug zu tun. Wäsche fiel in Bergen an, zu fegen war ständig, Simon hinterherzuräumen eine Sisyphusarbeit. Mit drei Jahren hatte er Windeln verweigert, keine Chance, ihm noch eine überziehen zu wollen, er riss alles von sich, nachts trocken wurde er aber erst gut ein Jahr später. Also fielen jeden Tag eine Bettgarnitur und mindestens ein Pyjama an. Auch tagsüber ging öfter was in die Hose. Bis er etwa neun war, musste man ihn auf die Toilette begleiten und säubern. Jetzt noch finde ich im Bad manchmal kotverschmierte Handtücher oder Kleider, die zerknüllt in die Toilette gestopft wurden. An schlechten Tagen stehe ich dann kurz vor dem Nervenzusammenbruch, an guten Tagen kann ich das als Hinweise darauf deuten, dass er sich bemüht hat, mit einer schwierigen Situation kreativ umzugehen. Der Versuch, ihm beizubringen, dass er im Sitzen pinkeln soll, um nicht die gesamte Klobrille samt FuÃboden zu verspritzen, dauert im sechsten Monat an.
Mit neun Jahren, genervt von der Leere der Sommerferien, die seine gewohnten Strukturen zerstörte, begann Simon sogar wieder, wo er ging und stand zu pinkeln: ins Bett, auf den Boden, auf dem Schaukelstuhl sitzend. Ein Therapeut empfahl mir hartes Durchgreifen, ein anderer Ignorieren, ein Dritter etwas Drittes, was mir mittlerweile entfallen ist. Als ich mit allen Möglichkeiten durch war, lieà ich sein Bettzeug einfach nur noch trocknen und legte in seinem Zimmer Linoleum. Der Teppich, den ich herausriss, stank wie im Raubtierkäfig.
Dann wieder entwickelte er die Gewohnheit, Löcher in seine T-Shirts zu nagen. Das geschah binnen Sekunden, keine Chance, das zu verhindern. Jedes einzelne Kleidungsstück sah aus, als wäre es von Kampfmotten befallen worden, löcherig durch und durch. Wenn ich nicht rechtzeitig eingriff, vergröÃerte er die FraÃlöcher durch Herumfingern auf enorme Umfänge. Im Schrank stapelten sich Pullover und Shirts, die mehr als die zwei Ausgänge in den Ãrmeln hatten, dazu noch herunterhängende Säume, Risse über die ganze Brust und Myriaden winziger Löcher, als hätte man den Stoff perforiert. Meine Abende füllten sich mit mühseligen Stopfarbeiten; Simons Garderobe sah beschämend aus. Aber Kleider nachzukaufen wäre nicht mehr bezahlbar gewesen.
Beim Essen musste man Simon alle paar Sekunden wieder einfangen, weil er vom Tisch aufsprang und weglief, und ihn nötigen, einen weiteren Bissen vom vorgeschnittenen Mahl zu nehmen, statt irgendwo anders etwas zu zerstören. Oder in der Küche mit den Händen in den Töpfen zu wühlen oder deren Inhalt mit einer ganzen Packung Salz, Zucker oder Senf zu »veredeln«, die ich versehentlich stehen gelassen hatte. Ich gewöhnte mir an, sehr schnell zu essen, um immer auf dem Sprung sein zu können.
Beim Händewaschen führte ich seine Hände, wie auch beim Zähneputzen, beim Waschen, Abtrocknen, bei allen pflegerischen Aktivitäten. Genauso lief es bei den Hausaufgaben und allen anderen Tätigkeiten in Küche oder Haushalt. Alles, was getan werden musste, musste man Seite an Seite mit ihm tun, oft genug gegen Widerstand. Nie konnte man einfach sagen: »Hol mal dies und das« oder »geh dich mal waschen«. Die Zähne musste man gegen sein heftiges Sträuben putzen, die Kleider, die er oft und gerne auszog, wenden und ihm wieder überstreifen, drei-, vier-, fünfmal am Tag. Er zog sich zu gerne wieder aus. Eine Weile wollte er sich selber anziehen; zu diesem Zweck riss er sämtliche Kleidungsstücke aus dem Schrank und warf sie auf den Boden. Ich weià nicht, wie viele Stunden am Tag ich damit verbrachte, vorausschauend zu vermeiden oder frustriert hinterherzuräumen. Ständig tat sich irgendwo in der Wohnung ein Hotspot auf.
Natürlich fuhren wir fast
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