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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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jeden Nachmittag in eine Therapie. Die wenigsten fanden in der Nähe unseres dörflichen Wohnortes statt, so dass wir im Schnitt meistens zwei Stunden unterwegs waren, Berufsverkehrshorror inklusive. Das klingt härter, als es war, denn die Autofahrt war für mich eine Art Auszeit, auch wenn Simon bei jeder einzelnen Ampel so lange fragte: »Wann wird sie denn grün?«, bis es so weit war. Außerdem musste man die Kindersicherung benutzen, da er zum Aussteigen während der Fahrt neigte. Als er draufkam, wie man die Fenster öffnet, warf er eine Weile alles, was er in die Finger bekam, hinaus: Bäckertüten, Plastikflaschen, Spielzeug, Landkarten, Schneekratzer und die Parkscheibe. Eines Tages stoppte ich ihn gerade noch rechtzeitig bei dem Versuch, seine Sitzerhöhung aus Styropor durchs halboffene Fenster zu stopfen. Davon abgesehen – ein Idyll, bei dem ich mich ein wenig erholen konnte. Wenigstens tat ich etwas, was andere Erwachsene auch taten: Ich lenkte einen Kraftwagen.
    Dann, noch besser: die Wartezimmer der diversen Praxen, nett möblierte Räume, in denen ich eine halbe bis dreiviertel Stunde sitzen durfte, ohne dass jemand etwas von mir wollte. Teils arbeitete ich auf dem Laptop, teils blätterte ich in der Yellowpress, die ich in der Zeit sehr schätzen lernte, weil sie nichts, absolut nichts an Aufmerksamkeit und Konzentration vom Leser verlangt. Manchmal gab es sogar Tee. Die Zeit wurde auch noch für mein Kind sinnvoll genutzt, ich brauchte also kein schlechtes Gewissen zu haben bei alldem. Manchmal erhielt ich zum Tee ein wenig Beachtung, durfte erzählen, wie es Simon ging und uns, und was seit der letzten Sitzung wieder alles passiert war. Eine Wohltat, denn in der Regel hatte ich ja bis zu den Nachmittagen noch mit keinem erwachsenen Menschen gesprochen.
    Hier saßen Mütter, denen es ähnlich und manchmal sogar noch schlechter ging. Ich denke an die junge Frau mit dem kleinen nichtsprechenden Jungen, ohne klare Diagnose, aber mit schwerer Epilepsie. Er trug einen dieser gepolsterten Kopfschützer, wie man sie von Boxern kennt. Aus heiterem Himmel konnte er in sich zusammenklappen und irgendwo aufschlagen. Ich sagte: »Sie können ihn niemals loslassen, nicht wahr?«
    Â»Ja«, sagte sie und schaute mich nur an.
    Oder jene andere Mutter, die meinte, auch ihr Kind schliefe nachts nicht viel, bedingt durch seine besondere Krankheit, deren Namen mir leider entfallen ist. »Und was tun Sie da?«, fragte ich begierig. Ich hoffte auf den Namen eines Medikamentes, einer Einschlaftechnik, eines Tricks, einer unfehlbaren Verhaltensregel, die das Kind ruhigstellen würde. Sie sagte nur: »Ich mache sehr viel Sport.«
    Die Therapeuten führten kurze Gespräche vor oder nach den Stunden, hörten sich Sorgen an, fragten, wie es lief. Manche, weil das zu ihrem Job gehörte, und manche, weil sich mit der Zeit Freundschaften aufbauten. Mit der Ergotherapeutin aus der Autismus-Ambulanz, die wir jahrelang jeden Mittwochnachmittag besuchten, stehe ich zum Beispiel heute noch in Mailkontakt. Sie hatte mir das Du angeboten, als sie fortzog. Es gab Rat, Mitgefühl und Trost. Und manchmal hörte ich sogar den Satz: »Sie machen das gut.«
    Ich fühlte mich wie auf Kur.
    Die Abende hingegen waren nicht existent. Meist lag ich im Dunkeln neben meinem Sohn und wartete darauf, dass er endlich nicht mehr zuckte, nichts Sinnloses mehr lallte, nicht mehr schrie. Stunden später wankte man dann aus seinem Zimmer, blinzelnd und fröstelnd vor Müdigkeit. Manchmal war dann noch Jonathan dran, der sich früh angewöhnt hatte, lange aufzubleiben, weil ihm das ein paar kostbare Minuten der Ungestörtheit mit seinen Eltern brachte. Wir sahen zusammen fern, oder ich las vor, das tat ich auch, als er groß war, noch gerne. Oder wir unterhielten uns. Über Werner. Über Ideen. Über das Leben und den Tod.
    Mein damaliger Mann saß in der Regel bereits an seinem Computer, wenn ich wieder hinunterkam. Meist klopfte ich nicht an seine Tür, er guckte dann immer so erschrocken über die Schulter. Ich ging ins Wohnzimmer und setzte mich auf das Sofa. Manchmal starrte ich nur vor mich hin. Manchmal spielte ich Mahjong auf dem Laptop, eine herrliche Tätigkeit, weil sie nichts verlangt, als dass man schaut und klickt, schaut und klickt, und das mit einer solchen Intensität, dass man wirklich an nichts anderes dabei denken kann.

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