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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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hatten die Wahl: zwischen der Skylla der Unterforderung im intellektuellen und der Charybdis der Überforderung im sozialen Bereich. Beides war gefährlich, beides konnte zu einem neuen Zusammenbruch führen.
    Am Ende entschieden wir uns, ein Versuch mit ungewissem Ausgang.
    Als wir begonnen hatten, das Experiment in die Wege zu leiten, hatten wir noch gedacht, die Georg-Zahn-Schule wäre eine sichere Bank im Hintergrund. Jetzt, wo Simon sich dort so unwohl fühlte, zeigte sich: Wir saßen zwischen allen Stühlen. Zwar hatte die Leitung des Gymnasiums überraschend offen reagiert; sie beschulten im selben Jahr bereits einen Aspergerautisten, ein hör- und ein sehbehindertes Kind und waren bereit, es mit Simon zu versuchen, so er nur eine Schulbegleitung mitbrachte. Aber es musste doch einiges vorbereitet werden. Simons neue Klasse sollte erst zusammenfinden, ehe er dazustieß. Auch war eine Aufklärungsveranstaltung geplant, bei der der Beratungslehrer für Autismus einen Vortrag über das Thema halten, Frau Kaarmann über Simon erzählen und die Kinder Gelegenheit bekommen sollten, Fragen zu stellen. Das wollte nicht nur organisiert sein, wir mussten uns auch darauf vorbereiten, dass uns vielleicht nicht nur positive Neugier entgegengebracht würde.
    Außerdem kam just ein Schreiben des Bezirks ins Haus geflogen, der mir mitteilte, dass Simon nur noch für ein halbes Jahr mit Frau Kaarmann rechnen dürfe, danach genüge für seinen Unterstützungsbedarf eine Hilfskraft. Ich sah all unsere Felle davonschwimmen. Stellen Sie sich die Szene vor: ein gymnasialer Fachlehrer, der vor einem brüllenden, sich auf den Kopf schlagenden Autisten steht und fragt, was er hat. Dessen Begleitung zuckt die Schultern und meint: »Keine Ahnung, ich kenne den auch erst zwei Wochen.« Ein Unding. Außerdem beherrschte eine normale Betreuerin keine Gestützte Kommunikation. Bis ich die Bewilligung hätte, dass sie so einen Kurs absolvieren durfte, der auch nur alle halbe Jahre angeboten wurde, hätte Simon gar nicht am Unterricht teilnehmen können!
    Ich alarmierte sämtliche Beratungsstellen, holte mir Tipps für griffige Argumentationslinien, verfasste, halb in Wut, halb in Panik, einen entschlossenen dreiseitigen Brief mit einem Widerspruch und erreichte, dass ein Sachverständiger eingeschaltet wurde. Zu unserem Glück war das eine Person, die einerseits wirklich etwas von Autismus verstand, andererseits Simon bereits kannte: Frau Wolf. Sie besuchte Simons Unterricht und bestärkte uns. Raus dort, so schnell es geht. Lieber überfordern, meinte sie zu mir, als unterfordern. Die gute Nachricht war: Sollte Simon den Übertritt aufs Gymnasium schaffen, würde er dauerhaft eine Fachkraft an seiner Seite benötigen, weil die Kluft zwischen seinem und dem normalen Sozialverhalten so groß war, dass sie nicht von einer Hilfskraft überbrückt werden konnte.
    Ich war unendlich erleichtert. Frau Wolf machte mir am Ende noch ein Kompliment: »Sie haben ihn gut hingekriegt«, sagte sie. Obwohl ich gut weiß, wie groß der Anteil unserer Helfer und Stützer daran ist, dass es im Grunde Frau Kaarmann ist, die ihn »hingekriegt« hat, tat das doch sehr, sehr gut.
    Aber all das dauerte seine Zeit. Wenige Wochen nur, doch die Zeit zieht sich, wenn man nachts nicht schlafen kann. Und Simon, zwischen den Welten hängend, rannte aufs Klo, schlug um sich und schrie.
    Zunächst nahm Simon am Gymnasium nur am Mathematikunterricht der fünften Klasse teil, vier Stunden die Woche. Einen Ausraster hatte er schon in der ersten Woche, sein Gebrüll sorgte dafür, dass alle Türen auf dem Flur aufgingen und die Nachbarklassen die Köpfe raussteckten, leider auch der Direktor, der nebenan zufällig einen Unterrichtsbesuch absolvierte. Zum Glück behielt der Mathelehrer die Coolness und überließ alles Frau Kaarmann, die sich Simon schnappte und mit ihm in die Bibliothek ging. Dort arbeiten Mütter als freiwillige Kräfte, von denen viele Frau Kaarmann kannten. Sie und Simon waren dort gut gelitten; sie erhielten sogar einen Leseausweis, obwohl Simon offiziell noch gar kein Schüler war. Wenn Simon es im Klassenzimmer nicht aushielt, dann flüchteten sie dorthin und übersetzten einen Lernkrimi aus dem Englischen. Überraschenderweise kam Simon dabei meist schnell wieder zur Ruhe.
    Er wollte auf diese Schule, wollte auf das

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