Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
andere geschoben.
Beim runden Tisch einige Wochen später an Simons Schule wurde mit allem erdenklichen Aufwand gearbeitet, Flipcharts, Zetteln, auf denen jeder seine Wünsche und Erwartungen notieren sollte, mit verschiedenfarbigen Stiften, Klebepunkten etc. etc. Es war eine groÃe Inszenierung, die mir den Sinn zu haben schien, der uneinsichtigen Mutter die Realitäten nahezubringen: dass Simon ein schwerbehindertes Kind war, das an keiner anderen Schule als der der Lebenshilfe je zurechtkommen würde. Dagegen stand die Einschätzung seiner Schulbegleiterin, Frau Kaarmann, die glaubte, Simons Frust über die aggressive, laute Umgebung sei der Auslöser für sein problematisches Verhalten. Dass sich seine Wutanfälle geben würden, wenn er nur in die richtige Lernumgebung käme, war ihre Ãberzeugung, ihr Glaube. Inzwischen wohl eher die letzte Hoffnung, ein Strohhalm angesichts Simons vieler Ãbergriffe auf sie und angesichts der Kratzer, die sie im Gesicht trug.
Was war es also: Quälten wir ihn mit Ãberforderung, Frau Kaarmann und ich? Quälte ihn die Schule mit Unterforderung? Oder quälte ihn die Aussichtslosigkeit seiner Behindertenexistenz, die ihn an eine Umgebung fesselte, in der er einzig sein konnte und doch nicht bleiben wollte? Ich hatte die Wahl zwischen Henne, Ei oder tragischer Verstrickung. Oder auch, neuer Einfall: War es einfach die Pubertät mit ihren hormonellen Schüben, die ihn neuerdings so aufbrachte? Pubertät, das ist keine leichte Zeit im Leben eines Autisten und seiner Angehörigen, das sagen alle, das stand überall, davor fürchtete ich mich schon länger. War es jetzt so weit?
Vielleicht war es auch alles zusammen, ich wusste bald überhaupt nichts mehr.
Es gab Menschen, die mir das eine erzählten, welche, die das andere suggerierten, solche, die mir bei jedem Meinungswechsel zustimmten, und diejenigen, die meinten, es wäre auch schon egal, was Simons Verhalten motiviere: Solange es so unerträglich sei, könne man es nicht tolerieren und er solle in ein Heim. Ich stand dazwischen, und ich war nicht stark.
Von Simon war nichts zu erfahren. Er schrie, er schlug, er wollte nicht kommunizieren. Fand er es aussichtslos, noch mit uns reden zu wollen, oder konnte er nicht ausdrücken, was ihn bedrückte, oder überbewertete ich ein hormongesteuertes Verhalten als seelische Not?
Ich schwamm wie selten, ich schwimme jetzt, da ich dies schreibe, noch immer. Die Lösung ist offen. Das Bild von Simon ungenau. Mein letzter Nervenzusammenbruch liegt vierzehn Tage zurück. Mir zittern die Hände, und wenn ich mit jemanden über ihn spreche, was zurzeit dauernd geschieht, muss ich die Augen schlieÃen, damit ich nicht weine. Schon in ein paar Tagen besuche ich eine weitere mögliche Schule, weil ich eben nicht stillhalten will und mein Kind nicht aufgeben kann. Ich weià nicht, was zuerst geschehen wird: Dass wir eine Lösung finden oder dass der kleine Riegel in meinem Kopf, der das Chaos zurückhält, endgültig aufspringt. Dabei geht es um so viel. Es geht darum, ein Kind zu erhalten oder zu zerstören.
Und schon das, sagen dann wieder andere Leute, sei falsches Denken, weil es eben Dinge gebe, die lägen auÃerhalb meiner Macht.
Aber noch sehe ich niemanden, der mir die Verantwortung abnähme, noch ist da niemand, der das Kind so liebt wie ich, dem es so sehr am Herzen liegt und der versucht, daraus das Beste zu machen. Simon hat zu mir keine Alternativen, also werde ich mich weiter bemühen, das Beste für ihn zu tun. Wer sagt denn, dass ich am Ende bin? Solange ich noch meine Klappe aufreiÃen kann, um mich zu beschweren, solange ich am nächsten Morgen wieder aufstehe, solange er mich weiter beim Aufwachen auffordert »Kitzeln!« und ich die Decke zurückziehe und über seinen Rücken und die FuÃsohlen streiche und wir beide lachen müssen und einen Moment des Friedens haben â warum sollten wir da aufgeben? Nur ich könnte sagen, dass es zu viel ist. Aber das will ich einfach nicht, ich will nicht aufgeben. AuÃerdem kann ich es auch gar nicht. Mit einem Autisten zu leben heiÃt, ständig die eigenen Gefühle beiseitezuschieben. Es hat ja keinen Zweck, laut zu werden, wenn er laut wird, traurig zu sein, wenn er traurig ist oder wütend, wenn er aufbraust. Wenn er auf Sie losgeht, dann halten Sie seine Hände fest und erklären ihm ruhig, dass
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