Ich liebe mich... Sabrina (German Edition)
nicht nur selbst ihre heimlichen Wünsche einzugestehen, sondern auch noch mit jemand Drittem darüber reden zu können.«
Wer sagt, dass ich darüber reden will? Ich hatte es schließlich nur aufgeschrieben und kurz danach bereits einen Riesenschrecken bekommen. Ich wusste nicht, wo ich hingucken sollte. Ich schaute nur auf meine Hände, die mit sich selbst beschäftigt waren und ein nicht vorhandenes Taschentuch zerknüllten.
»Zudem«, fuhr er fort, »haben Sie bereits hinter jeder definierten Angst eine Frage oder Aussage geschrieben; damit sind Sie ihrer nächsten Aufgabe bereits zuvorgekommen. Was haben Sie gedacht, als Sie diese Aussagen zu Ihren Ängsten schrieben?«
Ich riss mich zusammen und schaute ihm in die Augen. Ich spürte die Miniträne immer noch am Augenwinkel kleben. Leise, fast flüsternd, antwortete ich: »Es war sehr seltsam: Etwas geschah in diesen Augenblicken mit mir! Je öfter ich auf den Briefbogen mit meinen Angaben sah, desto dämlicher kamen mir meine Ängste vor, und ich fragte mich, was wohl die Ursachen dieser Ängste sein mochten. Daraufhin habe ich dann die dritte Spalte aufgemacht und meine Antworten dazu geschrieben. Das gab dann den entscheidenden Ausschlag: Es machte irgendwie Klick in meinem Kopf, und dann dachte ich, das ist ja geradezu lächerlich! Als ob ein kleines Mädchen diese Dinge aufgeschrieben hatte. Dann wurde ich wütend auf mich!«
Herr Sibelius saß schweigend da, hatte sich halb zur Seite mit dem Gesicht zum Fenster gedreht und seine Fingerspitzen gegeneinander gelegt. Wippend gingen seine Hände hin und her, er hatte Falten auf der Stirn, als ob er angestrengt nachdachte. Er sagte aber nichts. Durch die entstehende Pause fühlte ich mich genötigt, weiter zu sprechen. »Vor allem dieses Wer sagt das?, hat mich nachdenklich gestimmt. Zunächst versuchte ich mich zu erinnern, ob es mit meiner Erziehung zu tun haben könnte. Freunde warfen mir ja auch gelegentlich Engstirnigkeit und zementiertes Denken in Schwarz-Weiß-Kategorien vor. Mein Vater hat, glaube ich, damit nichts zu tun. Er war immer sehr liberal und großzügig zu meiner Schwester und mir. Mutter war es, die unsere Erziehung fest in der Hand hielt und die ein sehr fest gefügtes Wertesystem besaß. Sie wusste immer genau, was gut oder schlecht , richtig oder falsch war. Das kam mir bisher auch völlig okay vor! Ein Wertesystem muss doch jeder Mensch in sich haben oder nicht? Ohne das, wüssten wir doch gar nicht, was zu tun ist - wie wir uns in bestimmten Situationen verhalten sollten, oder?«
Herr Sibelius räusperte sich und drehte sich mir mit Schwung zu.
»Natürlich ist es normal, dass man ein Wertesystem hat. Das ist hilfreich und einfach! Das ist genau der Punkt, den wir untersuchen sollten. Deswegen halten wir gerne an solchen Systemen fest; weil es einfach ist! Wenn wir bei jeder auftretenden Situation, die eine Entscheidung von uns erfordert, alles wieder neu durchdenken müssten, dann erscheint uns das, als zu aufwändig. Die Frage ist, was uns heute mehr nützt: Altes unreflektiert, immer auf dieselbe Art zu entscheiden oder im Einzelfall neu abzuwägen?«
»Wie denken Sie jetzt darüber, Frau Hartmann, nachdem Sie Ihren Kommentar hinter ihre Ängste geschrieben haben?«
»Ich weiß nicht so recht. Was mir auffiel ist, dass ich mir das nie bewusst gemacht habe, was ich aus dubiosen Ängsten heraus alles unterlassen habe, was mir eigentlich mal wichtig war.«
»Mal wichtig war oder immer noch wichtig ist?«
»Immer noch wichtig ist! Ich habe das Gefühl, gar nicht richtig zu leben, nicht vollständig zu sein, als ob mich etwas blockiert!«
»Das tut es ja auch! Hier auf diesem Blatt Papier stehen die Gründe!« Mit Nachdruck klopfte er dabei mit seiner Hand auf meinen Zettel.
»Ich bitte Sie, bis zum nächsten Mal am kommenden Montag…«, er beugte sich vor, um auf seinen Terminkalender zu schauen, »…wieder zur gleichen Zeit hier zu sein. Bitte machen Sie sich Gedanken über folgende Frage: »Was würde in meinem Leben anders sein, wenn ich aufhörte, menschliche Verhaltensweisen nach meinen bisherigen Kategorien von richtig oder falsch zu beurteilen? Wenn ich stattdessen begänne, diese Worte zu ersetzen durch: mir gegenwärtig dienlich oder mir gegenwärtig nicht dienlich? «
Während er sprach, schrieb er die Worte mit seinem Füllfederhalter schwungvoll auf ein neues Blatt Papier. Er wedelte einen
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