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Ich liebe mich

Ich liebe mich

Titel: Ich liebe mich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Hassencamp
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ihr albern vorgekommen. Ein Griff im Nacken zwang sie sich vorzubeugen, ein Schmerz, sie las ihre Schuhe und Kleider zusammen, rollte alles zum Bündel, warf es auf den Haufen in der Ecke, überließ sich ihrem unbekannten Ich. Steil nach oben gehaltene Zigaretten passierten ihren Mund. Sie fühlte sich wie nie zuvor in ihrem Leben. Gleichzeitig in Trance und voll bewußt, genoß sie den Raubtiergriff des dürren Negers, folgte einem Schlitzäugigen auf den Kleiderhaufen, wo sich zwei Mädchen auf etwas oder jemandem räkelten, in artistische Liebkosungen verstrickt, ohne zu identifizieren. Wenig Worte in vielen Sprachen, »steile Zigaretten« zwischen allen Lippen, Flaschen, die nicht leer zu werden schienen, schweißnasse Gesichter, glitschige Haut, klebrige Haare. Schwarzes, langes, wirbelndes Haar, marmorweiße Haut, zuckende Schultern, das Mädchen bog sich zurück, im Limbo unter einem breitbeinig Hockenden durchzutauchen; ein anderes hing mit klammernden Beinen an einem schmuddeligen Kerl, wie ein Schimpanse an seinem Wärter: Mit mehr als zwanzig Jahren zählte Babette hier zu den Ältesten. Ein Grund mehr, sich hineinzustürzen, noch hemmungsloser, noch exzessiver zu fordern, zu saugen, inhalieren, beißen, öffnen, simultan, bis die Gipfelsekunden sich zusammendrängten zu stumpfer Dauer.
    Babette lag oder stand oder saß oder hing zerkratzt, zerbissen, erwürgt, zerhackt, verbrannt auf einem Scheiterhaufen aus süßlich rauchenden Leibern, über den keine Onkelchen hüpften wie in der Johannisnacht. Auch nicht ihr Vater, den sie nicht kannte und der doch irgendwo lag, unter ihr, über ihr, brennend wie sie selbst, wie die ganze "Welt. Alles starb, die Berge stürzten ein, Felsen zerschmetterten ihren Schoß, Blut floß in die Meere, rauchendes, süßliches Blut. Rhythmisch rollte der Donner, Flutwellen erfaßten sie, trugen sie fort, schleuderten sie gegen berstende Mauern, ein Blitz traf ihren Nabel, daß sie erbrach.
    Jemand kniete über ihr, jemand nickte, jemand zog sich an. Jemand reichte ihr ein Stück Zeitung.
    »Da. Wisch dich ab!«
    Babette besann sich, wo sie war, stand auf von dem dreckigen Boden, auf dem sie gelegen hatte, zwischen Asche, Flaschen, Zigarettenstummeln und Lachen, suchte in der halbhellen, halbleeren Höhle ihre Kleider, fand sie unter dem Kopf eines Schlafenden, zog sie ihm weg, angewidert von seiner Erektion.
    »Guten Morgen«, sagte jemand. Es war der Bärtige, der mit einem Besen hereinkam und zu fegen anfing, knapp um die noch Anwesenden herum, wie in einem Wartesaal.
    München empfing Babette mit gleißendem Sonnenlicht. Es war kühl, kräftig die Luft. Ausgeschlafene Bürger strebten ihren Arbeitsplätzen zu, ein Sprengwagen der Stadtwerke überzog den stumpfen Asphalt mit Glasur aus Sauberkeit. Spatzen nutzten die in Vertiefungen sich bildenden Pfützen zu morgendlichem Bad. Sie schloß die Wagentür auf, sog den Duft nach Leder und Lack ein und fuhr nach Hause. Auch hier alles sauber, frisch, sonnendurchflutet. Sie zog sich aus, warf die Kleider in den Müllschlucker, putzte sich lange die Zähne, gurgelte, badete in duftendem Schaum, wusch ihr Haar, bürstete die Haut, besprühte sich von Kopf bis Fuß mit Eau de Cologne, fand in der Diele einen Brief, bückte sich vorsichtig, las, ohne zu verstehen, was sie las, legte sich aufs Bett und schlief, bis das Telefon sie weckte. Kaum hatte sie sich gemeldet, da brandete es an ihr Ohr, als flute der strahlende Herbsttag nicht nur durchs Fenster, sondern auch durch die Leitung.
    »Babsilein, hallo! Du bist es wirklich? Oh, endlich, Kleines! Deine Stimme! Was war denn? Wo steckst du denn? Hab mir richtig Sorgen gemacht! Aber jetzt bin ich beruhigt. Sag, wie geht es dir? Bist du fleißig? Was macht die Arbeit, unser Nestchen...«
    Auf Capri hörte es sich an, als sei das Gespräch ganz in der Nähe unterbrochen worden, vielleicht in Neapel. Babette drehte sich auf die andere Seite, legte das Kopfkissen aufs Ohr, wollte schlafen, nur schlafen, aber seine Stimme klang nach, mit allen Stimmen der Nacht zusammen. Sie lief ins Bad, cremte die trockene Haut, zog sich an.
    Nur nicht allein sein jetzt.
    In dem nahe der Dolmetscherschule gelegenen Café saß Stephanie mit zwei Herren am Tisch, beide um die Fünfzig, und machte sich bemerkbar, als sie eintrat.
    »Wo warst ‘11 du heut morgen? Ich hab jedenfalls gesagt, du seist krank.«
    Babette setzte sich dazu, behielt die Sonnenbrille auf und war froh, daß gesprochen wurde. Es wurde

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