Ich mag dich immer noch, wie du bist - Liebe ist nicht die Antwort, sondern die Frage: Ich mag dich immer noch, wie du bist
zufriedengeben.«
»Was hast du in Mailand vor?«
»Nichts Besonderes. Ich werde Weihnachten feiern, meine Freunde treffen und dann wieder nach San Francisco zurückfliegen.«
»Wann erfährst du denn, ob man dich in Berkeley genommen hat?«
»Frühestens im Februar, bis dahin ist noch Zeit.«
Da dreht sich Dalila zu mir um und betrachtet mich verwundert.
»Wie kannst du nur so ruhig sein?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht habe ich mich einfach mit dem Chaos abgefunden. Erinnerst du dich noch an dieses Bild, Au temps de l’harmonie , das eigentlich zunächst Au temps de l’anarchie hieß? Ich habe mir überlegt, dass es eigentlich gar nicht so verkehrt ist. Harmonie und Anarchie liegen nicht allzu weit auseinander.«
Dalila erwidert nichts. Sie lächelt mich an, wie man einem Kind zulächelt, das glaubt, etwas unglaublich Kluges gesagt zu haben. Dann sieht sie wieder aus dem Fenster.
Nach dem Essen beschließen wir, uns einen Film anzugucken. Die Auswahl ist nicht üppig und am Ende entscheiden wir uns für einen Zeichentrickfilm. Die Geschichte von einem jungen, pummeligen Panda, der davon träumt, ein großer Kung-Fu-Kämpfer zu werden; aber dessen Vater, im Übrigen ein Ganter, hätte gerne, dass er seine Nachfolge antritt und Koch wird. Als der Abspann läuft, bemerke ich, dass Dalila ihre Augen geschlossen hat, aber in meinem Kopf hat sich ein Gedanke festgefressen, der dieses Gefühl friedlicher Gelassenheit empfindlich stört, das mich beim Abflug so angenehm erfüllt hat.
Ich kehre nach Mailand zurück, sage ich mir. Natürlich werde ich Alice wiedersehen müssen, und ich weiß nicht, was wir uns sagen sollen. Ich werde mit Martina reden müssen, um herauszufinden, warum verflucht noch mal sie dieses Lied geschrieben hat, und schließlich muss ich mich wohl oder übel auch mit meinem Ganter-Vater auseinandersetzen, der inzwischen bestimmt meinen Brief bekommen hat, und dann versuchen, unsere Beziehung wieder zu kitten.
70 Alice
Wieder so ein ganz normaler Tag. Es ist zwanzig vor acht und ich bin unterwegs zur Schule. Wie jeden Morgen sitze ich in der U-Bahn und habe die Kopfhörer meines iPods in den Ohren.
Aber irgendetwas ist heute anders.
Genauer gesagt: Heute sind alle verliebt.
Ich bin von Pärchen umzingelt. Pärchen, die sich küssen, einander umarmen oder Händchen halten. Ich ziehe die Ohrstöpsel raus und beobachte dieses merkwürdige Treiben um mich herum. Ja, alle haben einen Partner, alle lächeln, sind fröhlich, umarmen einander, tauschen Zärtlichkeiten aus, verabreden sich für den Nachmittag.
Und ich bin allein.
Ich fühle einen Stich ins Herz, als ich an die gemeinsamen Momente mit Luca zurückdenke. An all die Male, die wir morgens zusammen in der U-Bahn saßen. Als auch ich noch Teil eines Pärchens war. Ein Junge und ein Mädchen neben mir knutschen wild, es klingt wie kämpfende Nacktschnecken. Während das Geräusch ihrer Lippen laut in meinen Ohren widerhallt, steigt in mir das unwiderstehliche Verlangen auf, sie auseinanderzuzerren.
Erst als ich an meiner Haltestelle ankomme, bemerke ich, dass doch nicht alles Pärchen sind, es gibt höchstens noch zwei oder drei. Aber beim Aussteigen ist dieses unbekannte Gefühl immer noch da, ein Schmerz, eine Sehnsucht, die die Wut zunächst erdrückt hat. In Wahrheit habe ich die Kontrolle über meine Gefühle verloren. Vor zwei Tagen zum Beispiel hat mich eine Aspirinwerbung zu Tränen gerührt. Der Anblick des Mädchens mit der roten Triefnase, das endlich wieder frei durchatmen konnte, war einfach zu viel für mich und ich habe Rotz und Wasser geheult … Und gestern bin ich bei einer Griechischübersetzung richtiggehend ausgeflippt. Es ging um den Neid der Götter. Anscheinend werden die Götter nämlich eifersüchtig, wenn sie jemanden sehen, der zu glücklich ist, und dann setzen sie alles daran, sein Glück zu zerstören.
Aus all diesen Gründen fehlt mir, als ich an meiner Schule ankomme, die Kraft, sie zu betreten, ich bringe es einfach nicht über mich, nach all den Malen diese Schwelle zu überschreiten, einfach so zu tun, als ob nichts wäre, zu lernen und zu versuchen, an nichts anderes zu denken. Am liebsten würde ich nur noch weinen, und das möchte ich nicht in der Öffentlichkeit tun.
Eine halbe Stunde später sitze ich im Sempione-Park auf einer kleinen Bank an dem Teich mit den Enten. Ich sehe ihnen zu, wie sie hin und her schwimmen, einfach so, ohne einen erkennbaren Grund, ohne ein Ziel, was wohl
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