Ich mag dich immer noch, wie du bist - Liebe ist nicht die Antwort, sondern die Frage: Ich mag dich immer noch, wie du bist
sie.
»Freundschaft«, sagt sie und wirkt auf einmal abgelenkt, als wäre ihr gerade etwas eingefallen. Tatsächlich schweigt sie kurz. Dann holt sie ihr Handy raus und fängt an etwas einzutippen.
»Marti, was ist los?«
»Nichts, gar nichts, ich muss mir etwas notieren, sonst vergesse ich es.«
Als wir mit unserem Essen fertig sind und die zweite Flasche Wein ausgetrunken haben, ist es gerade mal zehn Uhr. Deshalb beschließen wir, einen Strandspaziergang zu machen und später vielleicht noch in eine Kneipe zu gehen. Heute Abend ist es kalt und es bläst ein beständiger Wind. Die beleuchtete Skyline von San Francisco zeichnet sich auf der gegenüberliegenden Seite ab wie ein Bollwerk gegen die übrige Welt.
»Weißt du, das Problem ist, dass ich unzufrieden geworden bin, Martina. Keine Ahnung, warum, aber es ist so. Ich war immer ein ruhiger Typ, das weißt du, ich habe nie Mist gebaut. Aber jetzt … ist es so, als würde ich die Scheiße geradezu magnetisch anzuziehen, ich weiß nicht, ob du verstehst, was ich meine.«
Sie sieht mich an und prustet los.
»Ich glaube schon, dass ich dich verstehe.«
Martina bleibt stehen, der Wind lässt ihre Haare in Richtung Stadt flattern. Mit einer Hand hält sie sich den Mantel oben am Kragen zusammen.
»Ist dir kalt?«, frage ich sie.
»Ja, ein wenig.«
»Wenn du willst, können wir zurückgehen. Ich bring dich zu deinem Hotel und nehme dann den Bus.«
»Du schläfst heute Nacht bei mir, ich muss dir ein Lied vorspielen. Und bild dir ja nichts ein, du Lustmolch!«
Mit diesen Worten hakt sie sich bei mir unter und hebt die andere Hand, um ein Taxi anzuhalten.
34 Alice
»Dann nehmen wir eben eine Pizza.«
»Tut mir leid, bei uns gibt es keine Pizza.«
»Liebling, nun sag der jungen Frau endlich, was du möchtest, damit sie gehen kann.«
Es ist Samstag, und jeden Samstag kommt Familie Nervensäge ins Restaurant, die postwendend an mich weitergereicht wird, weil ich die Neue hier bin.
»Ich will eine Pizza Calzone«, sagt die halbwüchsige Tochter zickig. Die aschblonden Haare fallen ihr seitlich am Gesicht herab wie Scheuklappen und ihr Rücken ist leicht gekrümmt, als würde sie etwas suchen, das unter der Tischplatte klebt.
»Prima, für sie eine Calzone und was möchtest du?«, fragt die Mutter den Jungen, der sich weiter mit seinem gottverdammten Videospiel beschäftigt.
»Auch Pizza.«
»Schatz, hier gibt es keine Pizza, warum hörst du nicht mal einen Moment auf und schaust in die Karte?«
»Weil ich keinen Bock habe.«
»Und eine Flasche Pinot Grigio«, bestellt der Vater, der anscheinend in einer Parallelwelt lebt und/oder Ohrstöpsel trägt.
Ich frage mich, ob ich mich je wie dieser zickige Teenager benommen habe oder mein Bruder wie dieses verwöhnte kleine Arschloch. Und anstatt mir die Frage mit einer banalen Allerweltsphrase zu beantworten (»Ja, jeder macht doch diese Phase durch und bla bla bla«), komme ich zu dem Schluss, dass ich mich niemals so benommen habe. Ich bin nie so unverschämt dreist gewesen. Wütend, gereizt, bitter … Das schon, da bin ich mir sicher. Aber nie so unverschämt unausstehlich. Das würde ich gern diesem Mädchen sagen. Ich würde ihr gern sagen, dass sie sich keinen Gefallen damit tut, aber … Mein Handy in der Hosentasche vibriert. Ich nehme es heraus und sehe nach, wer es ist. Eine Vorwahl aus Mailand und eine Nummer, die ich nicht kenne. Das könnte der Journalist sein. Ich muss unbedingt drangehen.
»Sehr gut«, sage ich zu der Tischrunde, »also, ich habe alles aufgenommen, wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie mich.«
Eilig entferne ich mich und verkrümele mich in die Küche. Ich melde mich am Telefon: »Hallo?«
»Hallo, Alice?«
»Ja, ich bin’s.«
»Hi, hier ist Giovanni, wir haben uns bei der Demo in der Bar gesehen.«
»Ja, ich erinnere mich«, erwidere ich kühl.
»Sag mal, warum kommst du nicht in der Redaktion vorbei? Ich hätte da ein Angebot für dich.«
Er geht überhaupt nicht darauf ein, dass ein Artikel erschienen ist, in dem er mich als Quelle hätte nennen müssen und in dem mein Name überhaupt nicht auftaucht, aber hier und jetzt kann ich nicht darüber reden.
»Okay«, antworte ich, obwohl ich jetzt eigentlich gern eine wirksamere und schlagfertigere Bemerkung auf Lager hätte, als kleiner Vorgeschmack auf meine Verbitterung wegen des Unrechts, das man mir angetan hat.
So beenden wir das Telefonat, nachdem wir ein Treffen vor der Redaktion der Zeitung ausgemacht
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