Ich mag dich immer noch, wie du bist - Liebe ist nicht die Antwort, sondern die Frage: Ich mag dich immer noch, wie du bist
trägt lila Strumpfhosen in Stiefeln, einen schwarzen, dünnen Pullover, der so lang ist, dass er auch als Minikleid gelten kann, und darüber einen knöchellangen Mantel.
»Wow«, rufe ich begeistert.
»Da guckst du, was?«, sagt sie lächelnd und dreht sich einmal um sich selbst. »Ich versetze mich ein wenig in meine Rolle. Anscheinend klappt es. Und was sagt uns das: Es ist allen scheißegal, was ich singe.«
»Vielleicht solltest du ein bisschen an deiner Wortwahl arbeiten, für den Fall, dass du ins Fernsehen kommst. Ich hab übrigens noch gar nichts von dir gehört außer den Songs auf Myspace.«
»Mehr gibt es auch nicht«, sagt sie schulterzuckend.
»Aber war da nicht noch dein eigener Song? Hast du den noch nicht ins Internet gestellt?«
»Nein, den müssen wir erst aufnehmen. Das ist eine Überraschung für das Album …«
»Und der Text ist von dir?«
»Na klar ist der von mir. Von wem sollte er sonst sein? Aber wir sollten nicht über mich reden, sondern über dich. Und darüber, dass du echt das Letzte bist. Aber jetzt gehen wir erst was essen, ich sterbe vor Hunger.«
32 Alice
»Ihr habt euch also geküsst?«, ruft Mary. Sie ist völlig aus dem Häuschen.
»Mary, ich hab dir gerade genau das Gegenteil erzählt, aber du hörst nur das, was du hören willst.«
»Dann erzähl mir doch endlich, was passiert ist, wenn’s nicht zu viel verlangt ist.«
»Ich hab dir gesagt, dass ich ihn auf die Wangen geküsst habe, aber das zwei Mal, also insgesamt vier Mal.«
»Ali, Wangenküsse zählen nicht, es ist doch nicht so, dass vier Wangenküsse so viel zählen wie einer auf den Mund! Aber warum hast du ihn denn nicht geküsst?«
Es ist Viertel vor acht, als ich eilig das Haus verlasse. Ich weiß jetzt schon, dass ich zu spät kommen werde, sofern die U-Bahn nicht heute mal ausnahmsweise über die Station Cadorna hinausfährt, um geradewegs meinem Klassenzimmer entgegenzudonnern.
Doch darum mache ich mir überhaupt keinen Kopf. Viel wichtiger ist, dass heute der Artikel des Journalisten erscheint, in dem er mich zitiert! Okay, ich bin viel zu aufgeregt, das passt nicht zu mir, aber letztendlich bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Mary recht hat. Auch in einer verdammt beschissenen Zeit gibt es erfreuliche Dinge, und die muss man pflegen und festhalten.
»Mary, jetzt muss ich wirklich los, ich bin schon viel zu spät! Heute Nachmittag erzähl ich dir alles!«
»Okay! Ciao, Ali, und küss ihn, du dumme Kuh!«
In Cadorna steige ich um in die grüne U-Bahn-Linie Richtung Cologno: zwei Stationen, erst Lanza und dann kommt meine. Ich renne die Rolltreppen hinauf und sprinte bis zum Zeitungskiosk, wo ich mich buchstäblich auf den Ständer mit den Tageszeitungen stürze.
Ich schnappe mir eine Ausgabe, zahle und lasse sogar das Wechselgeld liegen. Erst als ich gerade hektisch die Zeitung aufschlagen will, bremse ich mich plötzlich. Ganz ruhig, Alice, was machst du da für ein Theater, wie sieht das denn aus? Also gehe ich langsam in Richtung Schule und blättere unterwegs die Seiten bis zum Mailänder Lokalteil durch, als könnten sich noch andere Zitate von mir auf der Kulturseite oder zwischen den Verbrechensmeldungen verstecken. Auf der ersten Seite des Lokalteils finde ich einen Artikel mit der Überschrift Mailand: Für Bildung muss man zahlen und den Namen des Journalisten, den ich kennengelernt habe.
Ich lese die ersten fünf Zeilen des Aufmachers auf der ersten Seite. Dann springe ich zu Seite sechs, während ich mich weiter Richtung Schule bewege, allerdings ohne Rücksicht darauf, dass ich mich immer mehr verspäte.
Seite sechs. Da ist es. Ich beginne zu lesen. Dabei frage ich mich, wie er mich wohl zitiert hat, vielleicht hat er ja meinen Nachnamen falsch geschrieben, so was kann vorkommen, sage ich mir. Es wird mich nicht weiter stören, wenn er meinen Nachnamen falsch geschrieben hat. Außerdem, wer sollte sonst Alice von der Schülerzeitung des Parini-Gymnasiums sein? Für alle dort wird klar sein, dass es um mich geht.
Ich lese, ich lese den ganzen Artikel von Anfang bis Ende durch. Dann lese ich ihn noch einmal, während ich in der Bar vor der Schule warte, bis es neun Uhr wird, weil es jetzt ohnehin zu spät für die erste Stunde ist, und dann lese ich ihn noch mal, während der Partis uns Dantes Paradies erklärt. Als die Pausenglocke ertönt, ist mir klar, dass mein Name in diesem Artikel nicht vorkommt. Es gibt keinen Hinweis auf unsere Schülerzeitung, obwohl der Inhalt
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