Ich mag dich immer noch, wie du bist - Liebe ist nicht die Antwort, sondern die Frage: Ich mag dich immer noch, wie du bist
Stammkunden-Familie ist auch diesen Samstag wiedergekommen. Inzwischen ist mit klar geworden, dass die Eltern zwei ganz normale Erwachsene sind (sie wissen, dass es bei uns keine Pizza gibt, haben aber beschlossen, dies und wer weiß was noch vor ihren Kindern geheim zu halten).
»Warum macht ihr keine Pizza?«, fragt der Junge. Heute hat er seinen Gameboy nicht dabei.
»Warum hast du deinen Gameboy nicht dabei?«, frage ich ihn und dann wende ich mich an das Mädchen: »Warum ziehst du immer so ein Gesicht? Und wieso habt ihr immer noch nicht gerafft, dass wir keine Pizza auf der Speisekarte haben? Langsam reicht’s mir!«
Alle vier Mitglieder unserer Lieblingsfamilie starren mich mit offenem Mund an.
»Tut mir leid, tut mir wirklich leid«, stottere ich, als ich mich gleich danach wieder gefangen habe. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe …«
In dem Moment kommt Fabio, der Chefkellner, an den Tisch. Er hat gemerkt, dass etwas nicht stimmt.
»Alles in Ordnung?«, fragt er mich und die Familie.
Niemand sagt ein Wort. Die Mutter sieht das Mädchen an, der Vater seine Frau und der Junge alle drei.
»Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«, fragt Fabio erneut.
»Also hören Sie, ich möchte ja niemanden in Schwierigkeiten bringen, aber …«, fängt die Mutter an, doch das Mädchen unterbricht sie sofort.
»Hier ist alles in Ordnung, alles bestens.«
»Ganz bestimmt?«, hakt Fabio nach.
»Ja, ganz bestimmt«, erwidert das Mädchen und zwinkert mir hinter ihrem mürrischen Gesichtsausdruck zu.
Drei Stunden später verlasse ich das Restaurant, die Hände in die Jackentaschen versenkt, die Schultern hochgezogen, wegen der Kälte und auch, weil ich stinkig bin. In meinem Kopf geht alles drunter und drüber: meine Reise nach San Francisco, das Ende meiner Liebe, die Fragezeichen in meinem Verhältnis zu Martina, die Zweifel und nicht zuletzt die ersten Anzeichen eines Nervenzusammenbruchs …
Ich laufe gerade am Naviglio entlang, dessen Ufer weihnachtlich beleuchtet sind, als ich einige Meter vor mir Lucas Vater entdecke, der sich dort an ein Begrenzungsmäuerchen zwischen Kanal und Straße lehnt.
»Guten Tag«, grüße ich ihn.
»Oh, hallo, Alice«, erwidert er. Er wirkt traurig, ausgesprochen traurig. Und er sieht mich an, als müsse er mir etwas sagen.
»Alles okay?«, frage ich.
»Gilt dein Angebot zu reden noch?«, antwortet er und im ersten Moment weiß ich nicht genau, was er meint.
»Wie meinst du das?«
»Über Luca. Ich würde gern mit dir über Luca reden. Wenn es dir recht ist …«
»Damals hätte es mehr Sinn gemacht«, gebe ich zu. »Aber okay.«
Kurz darauf laufen wir Seite an Seite am Naviglio entlang wie zwei alte Freunde. In den Straßen wimmelt es von Menschen. Viele machen schon Weihnachtseinkäufe und ich muss wohl nicht groß betonen, dass ich mit der allgemeinen Festtagsstimmung wenig anfangen kann.
»Seit er abgereist ist, haben wir nicht mehr miteinander geredet«, erzählt mir Lucas Vater. »Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe. Ich dachte eigentlich, ich hätte ihn immer ermutigt, ihm immer die Möglichkeit gegeben, die beste Wahl für sich zu treffen. Als er mir gesagt hat, dass er Wirtschaft studieren will, keine Ahnung, was er damit später mal werden will, habe ich gedacht, was für ein Unsinn, er kann mehr aus sich machen, er muss etwas Besonderes tun.«
Seine Worte sind eine kleine Offenbarung für mich. Luca hatte mir zwar erzählt, dass sein Vater so denkt, aber es von ihm selbst zu hören ist noch mal ganz etwas anderes. Ich denke an die letzten Gespräche über das Thema Universität und Arbeit bei uns zu Hause und bin überzeugt, dass meine Eltern mich tun und lassen werden, was ich möchte, sofern meine Ideen nicht allzu exzentrisch sind. Und auch wenn sie vielleicht versuchen werden, mich sanft in eine bestimmte Richtung zu schubsen, wird keiner von beiden sich darauf versteifen, dass ich etwas ganz Bestimmtes werden muss. Vielleicht ist gerade das sein Problem: Lucas Vater erinnert mich an diese verbissenen Eltern, die selbst das Zeug zu tollen Fußballern oder Basketballern gehabt hätten und dann aufgrund einer Verletzung ihren Ehrgeiz auf ihre Kinder übertragen mussten. Und jetzt schauen sie ihnen bei den Spielen zu, schreien wie die Irren am Spielfeldrand und legen sich mit den anderen Eltern an.
»Warum?«, frage ich.
Lucas Vater sieht mich fragend an. Ich hätte mir ja denken können,
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