Ich mag dich immer noch, wie du bist - Liebe ist nicht die Antwort, sondern die Frage: Ich mag dich immer noch, wie du bist
Antiquitäten zu sein, die Wände sind mit einer exquisiten Blumentapete überzogen, was man allerdings kaum sieht, da so viele Bilder davorhängen. Zeichnungen, Gemälde, Drucke – eine Pinakothek könnte nicht besser ausgestattet sein.
»Komm, wir gehen da rüber«, sagt Guido und beobachtet mich genau, denn ganz sicher ist mir mein Staunen anzumerken.
Im Flur sehe ich ein Bild, das ich nur zu gut kenne.
»Aber das ist … von Signac, oder?«
»Kennst du es?«
»Ja, das habe ich auch … Also, ich habe das Poster aus dem Museumsshop. Aber das hier ist wohl …«
»Es ist ein Original, ja, aber es gibt mehrere Kopien, das ist bloß eine Lithografie.«
Ach ja, sicher, er hat nur eine von »mehreren Kopien«. Der Ärmste …
Wir durchqueren den ganzen Flur, einen Gang mit vielen, zu vielen Türen, bis wir endlich zu seinem Zimmer gelangen. Es ist nicht wesentlich kleiner als das Wohnzimmer und in einen Schlaf- und Arbeitsbereich aufgeteilt. Der Computer ist eingeschaltet, ein großer Mac mit Flachbildschirm.
»Ich bin gleich durch mit dem Artikel über die Fabrikbesetzung«, sagt Guido und setzt sich an den Tisch. »Er ist bemerkenswert. Ich wollte dir bloß noch zwei Dinge zeigen, ich habe nämlich Fotos gemacht, die ich gut finde und auf die du nicht eingegangen bist.«
Den Rest des Nachmittags verbringen wir damit, den Artikel zu redigieren. Er zeigt mir Fotos, die er in der Fabrik aufgenommen hat, und wir überlegen uns andere gemeinsame Artikel für zukünftige Ausgaben der Schülerzeitung und träumen von der Möglichkeit, sie einer richtigen Zeitung anzubieten. Dabei erzähle ich ihm auch von meinem Treffen mit dem Journalisten und meine Befürchtungen, dass er eigentlich etwas ganz anderes vorhat. Guido hört mir aufmerksam zu und am Ende rät er mir, auf die Hilfe dieses Typen zu pfeifen, von so jemandem bräuchten wir keine Unterstützung.
»Wie meinst du das?«, frage ich ihn.
»Mein Vater kennt ein paar Leute, bei denen wir auch mal nachfragen können. Ich habe schon mit ihm darüber geredet. Wenn es dir also recht ist …«
»Ach so, na klar«, antworte ich zweifelnd, während mir langsam ein paar Details über Guidos Leben klar werden, die mir bislang eindeutig entgangen waren.
»Sind deine Eltern nicht da?«, frage ich ihn.
»Doch, doch, sie sind schon da«, erwidert er und runzelt leicht die Stirn. »Ich glaube, sie arbeiten noch, ich stelle euch später vor.«
Irgendwann klopft Sanjay an der Tür und gibt uns Bescheid, dass er kurz den Hund ausführt. Von wegen »geht uns etwas zur Hand«, denke ich.
Ich sehe auf die Uhr. Es ist fast sieben und ich denke, ich sollte mich jetzt besser auf den Heimweg machen, aber irgendetwas hält mich zurück. Was genau, kann ich gar nicht sagen. Es ist so ein Gefühl von Luxus, Bequemlichkeit, Unbeschwertheit, wie ich es noch nie erlebt habe.
In dem Augenblick klopft es wieder.
»Herein«, sagt Guido.
Die Tür geht auf und zwei sympathisch wirkende Mittvierziger kommen herein. Er hat dichte, grau melierte Haare, ist hochgewachsen und hager und auf seiner Hakennase sitzt eine Brille mit schmalem Rand; sie ist eine schöne Frau, trägt einen Minirock zu schwarzen Strümpfen und einen Pulli mit breitem Kragen, der bis auf ihre Schultern fällt.
»Meine Eltern«, stellt Guido vor. »Und das ist Alice.«
Die beiden sympathischen Mittvierziger (ich kann einfach nicht glauben, dass es seine Eltern sind) stellen sich nur kurz vor und dann verschwinden sie auch schon wieder, weil sie, wie sie sagen, in die Scala gehen, was ja an sich nicht so besonders ist. Ich war auch schon in der Scala. Aber es trägt nur noch zu meinem Gesamteindruck bei und ich werde das Gefühl nicht los, in einem Film gelandet zu sein.
Als wir wieder allein sind, ist Guido auf einmal merkwürdig still. Ich betrachte die roten Ziegel auf den Dächern draußen vor dem Fenster, während am Horizont der erste Stern aufgetaucht ist, und denke noch einmal über die etymologische Herkunft des Wortes desiderare nach. Als ich meinen Blick wieder ins Zimmer wende, bemerke ich, dass er mich beobachtet.
»Und, hast du deinen Stern gefunden?«, fragt er mich, und für einen Moment denke ich, er kann meine Gedanken lesen.
»Ja, aber er war nicht mehr an seinem Platz.«
»Das tut mir leid.«
»Mir auch.«
Die Stimmung im Zimmer wechselt rasch und ich meine, wieder auf dem Dach der besetzten Fabrik zu sein, wo wir uns das erste Mal darüber unterhalten haben. Mein Stern ist nicht
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