Ich mag dich wie du bist
beobachtet, wie er so dasaß, mit den Kopfhörern seines iPods in den Ohren, und mit gelangweiltem Gesicht ins Leere starrte. Dabei habe ich mich gefragt, was wohl im Kopf eines dreizehnjährigen Jungen vorgeht, der mit seiner Familie am Strand ist. So ähnlich wie man manchmal Hunde ansieht, wenn sie so wirken, als würde ihnen tatsächlich ein Gedanke durch den Kopf schießen. Ja, ich habe tatsächlich meinen pubertierenden Bruder angesehen, als wäre er ein netter kleiner Mischlingshund, und dabei gedacht: »Wenn er doch nur sprechen könnte!« Vielleicht ist er unglücklich, vielleicht hat er sich in irgendein Mädchen auf dem Campingplatz verliebt, vielleicht fängt er an, sich die Fragen aller Fragen zu stellen: Wer bin ich, was mache ich hier und gibt es nun Aliens auf unserem Planeten oder nicht?
Ohne aufzustehen, krabbele ich auf allen vieren rüber zu seinem Handtuch und setze mich neben ihn. Ich muss so schnell wie möglich in den Körper einer großen Schwester zurückkehren. Große Schwestern starren nicht, sie fragen.
»Was ist los?«
Er sieht mich an, als wäre ich verrückt geworden.
»Nichts.«
»Langweilst du dich?«
Er schaut sich um, wahrscheinlich will er nachsehen, ob irgendwo ein stumpfer Gegenstand herumliegt, mit dem er mir eins überziehen kann, falls es gleich zum Äußersten kommt.
»Hast du Lust, schwimmen zu gehen?«, fragt er. Offensichtlich hat er keine Waffen gefunden.
»Nein, das heißt, ja, wenn du willst … ich habe nur gedacht, du siehst traurig aus.«
»Warum?«
»Wolltest du lieber bei deinen Freunden auf dem Campingplatz bleiben?«
Er denkt kurz darüber nach, als hätte ich ihm gerade die dämlichste Frage der letzten zehn oder fünfzehn Jahre gestellt.
»Aber nein … also, wir sind hier, warum soll ich zurück zum Campingplatz gehen? Wir sind doch jetzt hier … oder?«
Plötzlich komme ich mir ziemlich dumm vor. Federico ist noch ein Kind. Er weiß nicht, was er gern tun möchte, er denkt gar nicht darüber nach.
»Komm, wir gehen schwimmen«, sage ich.
»Ja gut.«
Der Tag plätschert fröhlich dahin, in der ruhigen Atmosphäre, die erfahrungsgemäß häufig auf große Auseinandersetzungen folgt. Alle sind höflich und übermäßig liebenswürdig, ständig hört man »danke« und »bitte«, wo man sonst nur »schieb das mal rüber« oder »gib mir mal« sagt. Doch irgendwie ist es auch eine Art Wettstreit: Jeder möchte ein möglichst untadeliges Verhalten an den Tag legen. Es stimmt schon, zum Teil benehmen wir uns anständig, um nicht wieder zu streiten. Aber wenn man es einmal andersherum betrachtet, bereiten wir uns damit lediglich auf eine neue Auseinandersetzung vor, in der wir uns dann sogar gegenseitig unser gutes Benehmen vorhalten können.
Am Abend ist der Familienfrieden offiziell wiederhergestellt. Beim Essen reden wir ganz normal miteinander und es entsteht nur eine kurze Spannung, als mein Vater mich fragt, wie ich mit dem Lernen vorankomme. Für eine Sekunde sehe ich im Blick meiner Mutter Angst aufblitzen, die aber sofort verschwindet, als ich mit einem sehr allgemeinen »Gut, ich hab ja jetzt meinen Plan …« antworte.
»Wenn du möchtest, kannst du ab und zu hierbleiben, um zu lernen«, sagt meine Mutter und man merkt sofort, dass sie sich diesen Satz genau zurechtgelegt und dafür schon den väterlichen Segen eingeholt hat.
»Ja, wenn es euch recht ist, bleibe ich morgen hier«, sage ich mit neutralem Gesichtsausdruck und fester Stimme, die nicht die kleinste Spur Begeisterung verrät.
Mein Vater nickt, daraufhin erklärt meine Mutter das Thema für beendet und beginnt sofort, den Tisch abzuräumen.
»Morgen Abend ist der Tanzwettbewerb am Strand. Kommst du auch mit, Alice?«
»Aber sicher«, antworte ich und versuche meine verkrampften Gesichtsmuskeln zu einem Lächeln zu bewegen.
»Gut.«
Ich nehme die Plastikschüssel mit dem schmutzigen Geschirr und gehe in Richtung Waschräume. Heute bin ich wieder dran.
Ich spüle schon eine Weile, als auf einmal eine Hand nach dem Teller greift, den ich gerade zum Abtropfen hingestellt habe. Als ich mich ruckartig umdrehe, sehe ich in das angespannte Gesicht meiner Mutter. Ich bemerke, dass sie den Blick gesenkt hat, um mir nicht in die Augen sehen zu müssen.
Sechsundzwanzig
»Nimmst du Drogen? Bist du verliebt?«
Ich bezweifle, dass meine Mutter wirklich denkt, ich könnte Drogen nehmen. Vermutlich möchte sie nur die schlimmsten Gründe für mein Verhalten ausschließen. (Und
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