Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
vorbehaltlos liebte. Für ihre Kollegen war sie eine …«, Rabbi Strauss Sherman blickt auf seine Notizen, »… eine Redakteurin für Inneneinrichtung bei einer Zeitschrift.«
Falsch. Seit Annabels Geburt habe ich nicht mehr als Redakteurin gearbeitet. Zuletzt war ich freiberufliche Dekorateurin – eine der Frauen, die vor den Fotosessions mit langstieligen weißen Orchideen einfallen und die Räume so herausputzen, dass die meisten Leser sich bei diesem Anblick ganz mies fühlen, weil ihr eigenes Zuhause mit Sicherheit nie so aussehen wird. Dann blinzeln sie und fragen sich selbstgefällig, ob es tatsächlich Leute gibt, die so wohnen, ohne einen einzigen Familienschnappschuss in Teddybärrahmen. Wer kauft schon weiße Sofas und kratzige Sisalteppiche? Wie reinigt man die überhaupt? Und dann blättern sie weiter.
Ich habe nicht als Nahost-Friedensvermittlerin gearbeitet, nichtmal als Grundschullehrerin wie meine Zwillingsschwester. Doch ich habe meine Arbeit geliebt, und in meiner kleinen Welt war ich eine echte Größe. Was ich aus einem Kaminsims machen konnte, das war fast schon Kunst. Die Leute haben mich wahrscheinlich höchst ungern zu sich nach Hause eingeladen, aus Angst, ich könnte ihre Möbel umstellen oder ihnen vorschlagen, die Hälfte ihrer Nippes bei eBay zu versteigern.
»Molly war eine liebevolle Tochter und treue Freundin, ist leidenschaftlich gern Fahrrad gefahren und hat an der Northwestern University einen Abschluss in Kunstgeschichte gemacht.«
Will der Rabbi etwa meinen gesamten Lebenslauf vortragen? Ausplaudern, dass ich an der Brown University abgelehnt wurde und es an der Wesleyan auch nur bis auf die Warteliste gebracht habe? Will er von meinem Semester in Florenz erzählen, wo ich jedes Seminar geschwänzt habe – nicht mal die Lehrbücher habe ich mir gekauft –, während Emilio fra Diavolo mir alle Finessen des nonverbalen Italienisch beibrachte? Will er die beiden Jobs erwähnen, aus denen ich gefeuert wurde, und die vierzehn Monate Arbeitslosigkeit dazwischen? Mitteilen, dass Barry und ich eine Eheberaterin aufgesucht haben?
Da ist ja Dr. Stafford, da drüben. Meine Güte, sie sieht richtig bewegt aus. Und ich habe immer geglaubt, dass sie in den Therapiesitzungen mit Barry und mir die ganze Zeit dachte: »Weshalb gebe ich mich bloß mit diesen beiden total oberflächlichen Versagern ab, die zu jeder Selbsterkenntnis unfähig sind? Ach ja, das Privatschulgeld für meine drei Kinder. Deshalb.« Doch ich sehe Tränen in ihren Augen, und ich weiß, dass die echt sind.
Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen – doch eins habe ich schon gemerkt: Wenn der Herr im ganz großen Stil nimmt, entschädigt er einen mit einem fein regulierten Bullshit-Detektor. Das ist zwar nur ein schwacher Trost, gefällt mir aber ganz gut. Mir macht keiner mehr was weis.
»Und jetzt spricht Mollys Ehemann zu uns«, sagt der Rabbi. »Barry. Dr. Barry Marx.«
Barry drückt Annabel einen Kuss auf den Kopf und löst ihre Hand aus seiner. Annabel sieht zu Kitty – die sich das Wort Großmutter strengstens verbittet – hinüber und überlegt, ob sie näher an sie heranrücken soll. »Kitty riecht so komisch«, hat sie immer gesagt. »Das liegt an ihren Zigaretten, Liebling«, war stets meine Antwort. »Fang nicht an zu rauchen, wenn du groß bist, sonst riechst du auch so komisch.« Hoffentlich erinnert Annabel sich daran. Wenn sie zu einer Vierzehnjährigen mit Nasen-Piercing und Tattoo wird, die mit einer Zigarette zwischen den Lippen im East Village abhängt … kann ich verdammt wenig dagegen tun.
Kitty trägt ein strenges schwarzes Kostüm – Gucci oder Valentino. Oh, wie entsetzt sie wäre, wenn sie wüsste, dass ich den Unterschied nicht erkennen kann. Obwohl ich ja zugeben muss, das Kostüm ist dem Anlass nicht nur sehr angemessen, sondern sieht auch noch umwerfend aus. Der Schnitt betont ihren Yoga-trainierten, vierundsechzig Jahre alten Körper, der in Kleidung, wie wir beide uns insgeheim eingestehen, um einiges besser aussieht als meiner. Und außerdem hat sie heute anscheinend das komplette Erdgeschoss von Tiffany ausgeräumt. Für Kitty kann es nie protzig genug sein. Sie trägt kirschgroße Diamantohrstecker, eine Saphir-Smaragd-Brosche, die sich wie der Niagarafall über ihre Brust ergießt, das dazupassende Armband und eine schwarze Handtasche aus Eidechsenleder, in der zweifellos ihre Zigaretten stecken.
Ich hoffe, Annabel erbt mal ein paar von
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