Ich muss Sie küssen, Miss Dove
Wohnung in der Little Russell Street hinaus bis in die entferntesten Außenposten des Britischen Empire. Sie dachte an die Geschichten aus tausendundeiner Nacht, an Orte mit Namen wie Ceylon oder Kaschmir, wo die Luft erfüllt war vorn Duft der Gewürze und dem Klang der Sitar, wo auf den Marktplätzen dicke persische Teppiche und farbenfrohe Seide aus China feilgeboten wurden. Als Emma den Fächer durch die staubige Schaufensterscheibe des Ladens in der Regent Street gesehen hatte, da war sie sich — nur für einen kleinen Augenblick — so schön und exotisch vorgekommen wie Scheherazade. Emma seufzte verträumt.
Mr. Pigeon schnurrte ihr laut ins Ohr und ihr Traum, Scheherazade zu sein, verflog. Stattdessen streichelte sie dem Tier liebevoll den Rücken und genoss das seidenweiche Fell unter ihren Händen. Dann setzte sie sich auf und schlug die Bettdecke zurück.
Der Kater miaute empört, als sie aufstand. „Ich weiß, ich weiß", sagte sie zu ihm. „Aber ich muss zur Arbeit gehen." Als Emma barfuß über den Holzfußboden lief, schaute sie ihn über die Schulter hinweg gespielt streng an. „Ich kann nicht den ganzen Tag faulenzen wie gewisse andere Geschöpfe."
Mr. Pigeon gähnte unbeeindruckt und rollte sich noch bequemer auf ihrem Kissen zusammen. Wie immer erlaubte Emma ihm, dort zu bleiben, während sie ihren üblichen morgendlichen Verrichtungen nachging. Das Bett machte sie zuletzt.
Sie goss Wasser aus dem weißen Steingutkrug in die Waschschüssel und griff nach dem Seifentiegel. Nachdem sie sich gewaschen hatte, schlüpfte sie in eine gestärkte weiße Bluse und einen dunkelblauen Rock, dann zog sie ihre schwarzen Knöpfstiefeletten an und schob die Vorhänge auseinander.
Sie setzte sich vor die Frisierkommode, flocht ihren langen Zopf auf und nahm ihre Haarbürste zur Hand.
Emma beobachtete sich im Spiegel, wie sie mit der Bürste in ihrer Hand durch ihr bis zur Taille reichendes Haar fuhr, und der Anblick des Perlmuttrückens der Bürste weckte in ihr wie immer bittersüße Erinnerungen an ihre Tante. Hundert Bürstenstriche für den Glanz, hatte Tante Lydia ihr bei gebracht, als Emma fünfzehn gewesen war. Wäre Emmas Vater damals noch am Leben gewesen, hätte er so viel Zeit vor dem Spiegel für geradezu sündhaft eitel gehalten.
Vielleicht war sie eitel, aber Emma mochte ihr Haar. Meist sah es einfach nur braun aus, aber offen wie jetzt, noch gewellt durch den Zopf und im Sonnenschein, der durchs Fenster fiel, wirkte es beinahe wie dunkles Kupfer.
Das grüne Seidenkleid hätte wunderbar dazu gepasst, dachte sie. Aber es gibt Wichtigeres.
Sie schlang das Haar zu einem Knoten am Hinterkopf, befestigte ihn mit Haarnadeln und fügte noch zwei Haarkämme aus Zinn hinzu, um ganz sicher zu sein, dass der Knoten den ganzen Tag lang halten würde. Zufrieden wollte sie aufstehen, aber dann fiel es ihr wieder ein und sie hielt inne.
Sie hatte Geburtstag.
Langsam ließ sie sich wieder auf den Hocker sinken und starrte in den Spiegel. Sie war dreißig.
Sie sagte sich, dass sie nicht wie dreißig aussah. Dass die Sommersprossen auf ihrer Nase und ihren Wangenknochen sie jünger machten; Sommersprossen, die nie verschwinden würden, ganz gleich, mit wie viel Zitronensaft Emma sie auch behandelte. Haselnussbraune Augen in einem ovalen Gesicht blickten sie aus dem Spiegel an, Augen mit Wimpern, die nicht dunkel genug waren, um aufzufallen; Augenwinkel, die winzige Fältchen aufwiesen, die vor einem Jahr noch nicht da gewesen waren. Emma hob die Hand und strich mit den Fingerspitzen über die drei schwachen, parallel verlaufenden Falten auf ihrer Stirn.
Die Unzufriedenheit begann sie wieder zu plagen, und Emma ließ die Hand sinken. Wenn sie jetzt noch länger Trübsal blies, kam sie womöglich zu spät zur Arbeit. Sie erhob sich und verließ das Schlafzimmer. Da es schon nach acht war, hatte sie das Frühstück unten im Speiseraum verpasst, aber wenn sie sich beeilte, schaffte sie es noch, sich wenigstens eine Tasse Tee zu kochen, ehe sie aufbrechen musste.
Nachdem sie auch die Vorhänge im Wohnzimmer aufgezogen hatte, erhitzte sie Wasser auf einem kleinen Gaskocher und knabberte an einem Plätzchen, während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte. Dann goss sie den Tee auf und ihr stieg der Duft von Jasmin und Orangenschalen in die Nase.
Ceylon. Kaschmir. Grüne Seide. Scheherazade.
Unmöglich. Zwei Guineas für einen Fächer aus Pfauenfedern auszugeben, selbst an ihrem Geburtstag. Mehr als
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