Ich muss Sie küssen, Miss Dove
ich meinen Lebensunterhalt verdienen."
„Komm heute Abend nicht so spät, mein Lieber", bat seine Mutter, während Harry die Post einsammelte, die der Butler neben seinem Gedeck gestapelt hatte. „Nach dem Abendessen werden wir Musik hören. Nan will für uns singen."
Er bedachte die musikalisch begabte Lady Nan mit einem Lächeln. „Wie reizend, Mama. Ich werde mein Bestes tun, aber ich fürchte ich kann nichts versprechen für den Fall, dass ich unvermutet aufgehalten werde." Er verneigte sich und verließ den Raum, ehe Louisa darauf antworten konnte. Er seufzte erleichtert auf und ging in die Eingangshalle. „Meine Kutsche, Jackson", sagte er. „Holen Sie mich, wenn sie bereitsteht. Ich bin in meinem Arbeitszimmer."
„Sehr wohl, Mylord." Der Butler winkte einen Lakaien herbei, und Harry eilte durch die Halle in sein Arbeitszimmer, wo er die Gazette in den Papierkorb warf. Er hatte so viel aufgeblasene Selbstherrlichkeit darin gelesen, dass er froh war, das Blatt aus den Augen zu haben. Das Erste, was er tun würde, wenn er dieses Ding aufkaufte, war, ihm mehr Leben einzuhauchen. Und Harry war fest entschlossen, es in seinen Besitz zu bringen. Er war davon überzeugt, dass es durchaus profitabel werden konnte, wenn er der Zeitung einen etwas moderneren Schliff verlieh. Und das Verlagshaus, ein vierstöckiges Backsteingebäude gleich gegenüber von seinem eigenen Verlag, war bestens geeignet für eine Firmenerweiterung. Obendrein mochte Harry die Herausforderung, Barringer zu übertrumpfen. Früher oder später würde der Earl nachgeben müssen. Es war nur eine Frage der Zeit.
Harry öffnete seine Aktentasche und wollte die Blätter seiner anderen Konkurrenten darin verstauen, um sie auf dem Weg ins Büro lesen zu können, als sein Blick auf ein mit Bindfaden verschnürtes Manuskript fiel.
Miss Doves neues Buch.
Er hatte ihr zugesagt, es sich in Berkshire anzusehen, doch gleich nach seiner Ankunft dort hatte er es vollkommen vergessen. Er hielt nun einmal das Angeln für einen weitaus angenehmeren Zeitvertreib, als irgendetwas von Miss Doves Ergüssen zu lesen. Der Kutscher würde etwa zehn Minuten brauchen, um die Kutsche von den Stallungen zum Vordereingang des Hauses zu fahren. Das, wie er aus früheren Erfahrungen mit Miss Doves Manuskripten wusste, waren neuneinhalb Minuten mehr, als er benötigte, um sein Versprechen zu halten und sich dessen zu vergewissern, was er ohnehin schon ahnte.
Er zog das Manuskript aus der Aktentasche, setzte sich an den Schreibtisch und knüpfte den Bindfaden auf. Dann hob er einen Teil des Papierstapels an beliebiger Stelle ab.
Auch die kleinste Wohnung mit ungünstigsten Lichtverhältnissen kann mit nur ganz wenig Geld in ein gemütliches Nest verwandelt werden, wenn die Junggesellin auf ihren gesunden Menschenverstand und ihren Einfallsreichtum zurückgreift. Und, natürlich, wenn sie weiß, wo sie am besten einkaufen kann.
Harry legte den Stapel wieder zusammen. Langweilig wie der Wischlappen eines Küchenmädchens, genau wie vorhergesagt. Die arme Miss Dove schien nicht begreifen zu können, dass niemand so einen Unsinn lesen wollte. Er verschnürte das Manuskript wieder, steckte es zurück in die Tasche und holte stattdessen sein Notizbuch heraus. In Erwartung seiner Rückkehr hatte man es ihm am Vortag ins Haus geliefert, und seine gesamten Termine waren darin in der gestochen klaren Handschrift seiner Sekretärin vermerkt worden.
Gleich beim ersten Eintrag verzog er das Gesicht. Ein Treffen mit seinen Redakteuren. Diese monatliche Besprechung war immer das reinste Vergnügen. Harry spielte mit dem Gedanken, sie einfach ausfallen zu lassen, schließlich gehörte ihm die Firma. Aber wenn er seine Redakteure nicht ein wenig im Auge behielt, würden sie weiß Gott was veröffentlichen, er mochte gar nicht daran denken. Als Jackson verkündete, dass die Kutsche vorgefahren war, nahm Harry seinen Hut, fügte sich dem Unvermeidlichen und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Wegen seines überstürzten Aufbruchs vom Frühstückstisch traf er schon geraume Zeit vor der Besprechung in seinen Büroräumen ein.
Miss Dove stand auf, als er eintrat. „Guten Morgen, Mylord" , begrüßte sie ihn. „Sie kommen heute sehr früh."
„Ja, geradezu unanständig früh, ich weiß", stimmte er zu. „Häusliche Probleme, Miss Dove."
„Es tut mir leid, das zu hören. Es gibt da einige gute Vermittlungsbüros, falls Ihr Butler oder Ihre Haushälterin nicht genügend Personal zur
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