Ich muss Sie küssen, Miss Dove
Dingen um sich werfen, aber das kam natürlich nicht infrage. Sie befand sich in der Öffentlichkeit, um sie herum waren viele Menschen, und eine Dame ließ ihren Gefühlen in Gegenwart anderer niemals freien Lauf.
Nach Hause. Zu Hause konnte sie Gegenstände werfen, weinen und nach Herzenslust schreien. Natürlich durfte sie nichts werfen, an dem sie hing und das zerbrechen konnte, das würde sie hinterher nur bereuen. Und zu laut schreien durfte sie auch nicht, denn sonst dachte ihre Hauswirtin, irgendein Verrückter hätte sich ins Haus geschlichen, und holte womöglich die Polizei. Was für eine entsetzliche Vorstellung.
Da sie gerade keine andere Möglichkeit hatte, ihren Zorn zu besänftigen, atmete sie ein paar Mal tief durch und konzentrierte sich dann ganz auf ihre Schritte. Ihre Stiefelabsätze hämmerten einen wütenden Rhythmus auf das Straßenpflaster.
Ich kündige, beschloss sie. Gleich Montagmorgen würde sie ins Büro gehen, ihre Kündigung ruhig und würdevoll einreichen, dabei die vereinbarte Frist von zwei Wochen einhalten und ihre Wut lange genug herunterschlucken, um um ein Empfehlungsschreiben zu bitten. Das war die vernünftigste Lösung.
Nein, das ist sie nicht, warnte eine innere Stimme. Es war keineswegs vernünftig zu kündigen. Emma verdiente siebeneinhalb Pfund im Monat. Wo sonst würde sie wohl so viel Gehalt bekommen? Männer wie Marlowe, die die Einstellung hatten, dass eine Sekretärin genauso viel Lohn bekommen sollte wie ein männlicher Kollege, waren seltener als Einhörner. Sie hatte eine gemütliche, kuschelige Wohnung in einem sehr angesehenen Viertel, die Sicherheit eines Arbeitsplatzes, den sie noch lange Zeit behalten würde, und ein ständig anwachsendes finanzielles Polster auf der Bank, das pro Jahr drei Prozent Zinsen brachte — ihre Absicherung gegen Armut, wenn sie einmal zu alt zum Arbeiten war.
Emma blieb wieder stehen und lehnte sich an das schmiedeeiserne Geländer vor der Royal Music Hall. Sie seufzte. Es gab Zeiten, wie jetzt, in denen es schwer war, vernünftig zu sein. Ein paar Minuten lang haderte sie mit sich, nicht wissend, was sie tun sollte. Man sollte nicht immer nur vernünftig sein. Bestimmt gab es Augenblicke, in denen sie eigentlich ihren Empfindungen entsprechend handeln, sich spontan zu etwas hinreißen lassen sollte, aber irgendwie brachte sie das nie zustande. Wenn sie es doch nur gekonnt hätte.
Sie ging weiter und bereitete sich darauf vor, die nächste Mietdroschke anzuhalten. Ein einziges Mal im Leben würde sie nicht vernünftig sein. Sie würde nach Mayfair fahren und sich diesen Fächer aus Pfauenfedern kaufen, ganz gleich, was er kostete. Jede Frau sollte sich an ihrem Geburtstag schön und exotisch fühlen können.
Das kleine Glöckchen über der Tür von Dobbs' Antiquitäten- und Kuriositätengeschäft klingelte, als Emma eintrat, aber Mr. Dobbs bemerkte das nicht einmal. Eifrig bemüht stand er bei einer Gruppe junger Damen, die sich um den Tresen in der Mitte des Ladens drängten.
Emma erstarrte. Eine der Damen, ein hübsches blondes Mädchen in einem rosafarbenen Kleid, hielt einen Fächer in der Hand, Ihren Fächer. Die junge Frau zeigte ihn ihren Gefährtinnen. „Meint ihr, ob der geeignet ist für Wallingfords Ball?", fragte sie lachend.
Alles in Emma schrie protestierend auf. Sie tat einen Schritt vorwärts und hielt dann wieder inne. Sie war kurz davor, der jungen Frau den Fächer aus der Hand zu reißen, aber es gab nichts, was sie tun konnte, außer abwarten und zusehen.
Sie waren wie hübsche Schmetterlinge, diese Mädchen in ihren fröhlichen pastellfarbenen Kleidern. Lachend wedelten sie abwechselnd spielerisch mit dem Fächer herum, während Emma mit hinter dem Rücken gekreuzten Fingern an der Tür verharrte und hoffte, dass sie ihn wieder hinlegen und fortgehen würden. Sie hörte zu, wie sie munter über den bevorstehenden Ball schwatzten, über ihre zahlreichen Verehrer und die vielen Namen auf ihren Tanzkarten.
„So, soll ich ihn nun kaufen oder nicht?", fragte die Blonde schließlich mit etwas erhobener Stimme, um das Plappern ihrer Freundinnen zu übertönen. Und sofort bestätigten alle, dass dieser Fächer das perfekte Accessoire war für das türkisfarbene Ballkleid, das sie tragen würde.
Erschüttert verfolgte Emma, wie das Mädchen seine Errungenschaft bezahlte. Sie wusste, sie reagierte vollkommen unverhältnismäßig auf diese Situation, und versuchte, sich mit dem Verlust abzufinden. Es ist nur
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