Ich muss Sie küssen, Miss Dove
ihn mit großen Augen an. Ihre Lippen waren halb geöffnet, und der Ausdruck der Verwirrung war grenzenloser Erstauntheit gewichen.
Das passte so wenig zu ihrer sonst so kühlen unerschütterlichen Art, dass er erschrak. „Miss Dove, geht es Ihnen gut?"
„Sie wissen nicht, wer Mrs. Bartleby ist", sagte sie mit ganz seltsamer Stimme, so als versuchte sie, sich mit etwas vollkommen Unmöglichem abzufinden. Harry wurde allmählich unbehaglich zumute.
„Sollte ich sie kennen?" Er lächelte. „Helfen Sie meinem Gedächtnis auf die Sprünge, denn ich kann mich nicht erinnern, diesen Namen je gehört zu haben. Ist in unserem Verlag ein Buch von ihr erschienen, von dem ich nichts weiß?"
„Nein." Emma schluckte und blickte starr wie eine Statue an ihm vorbei.
Harrys Unbehagen verwandelte sich in Sorge. Ob sie wohl ohnmächtig werden würde? Er konnte sich nicht vorstellen, dass eine Miss Dove in Ohnmacht fiel, aber es gab für alles ein erstes Mal. „Sie sind ja kreidebleich! Sind Sie krank?"
„Nein." Langsam schien die Benommenheit von ihr abzufallen. Sie fand ihre übliche Haltung wieder, und er fragte sich fast, ob er sich diesen schockierten Gesichtsausdruck nur eingebildet hatte. „Vielen Dank für Ihre Meinung zu meinem Buch", sagte sie. „Da heute Samstag und es schon geraume Zeit nach Mittag ist, würde ich jetzt gern aufbrechen, wenn sonst nichts mehr anliegt." Sie wartete seine Antwort nicht ab und lief zur Tür.
„Miss Dove?", rief er ihr nach.
Sie blieb stehen und wandte sich zu ihm um, ohne Harry jedoch direkt anzusehen. „Ja, Mylord?"
„Wer ist Mrs. Bartleby?"
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie antwortete. „Niemand von Bedeutung", erklärte sie, ging hinaus und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
Stirnrunzelnd starrte er auf die Tür, er fühlte sich immer noch unwohl. Sie war zweifellos enttäuscht, aber was eine Frau namens Bartleby damit zu tun hatte, war ihm schleierhaft. Mit einem Achselzucken verbannte er die seltsame Unterhaltung aus seinen Gedanken. Es verletzte Miss Dove immer, wenn er ein Buch von ihr ablehnte, aber sie würde darüber hinwegkommen. Das tat sie immer.
Er hatte ihre Bücher nie gelesen. Wieder und wieder wiederholte sie die Tatsache in ihrem Kopf, während sie die Chancery Lane entlangging, aber sie konnte es immer noch nicht fassen. Er hatte nicht ein einziges ihrer Bücher gelesen. Oder irrte sie sich vielleicht doch? Nein, das war nicht möglich. Wenn Marlowe ihr Werk kennen würde, dann wüsste er, dass Mrs. Bartleby Emmas Pseudonym und die von ihr erfundene Autorin aller ihrer Manuskripte war. Himmel, der Name dieser Frau stand auf der Titelseite! Wie konnte er den übersehen? Und im ganzen Text wimmelte es von Hinweisen auf Mrs. Bartleby. Nein, Emma irrte sich nicht.
All die Zeit, all die harte Arbeit, all ihre Pflichten, die sie so gewissenhaft für ihn erfüllte — und er machte sich nicht einmal die Mühe, die Titelseite ihres Buchs zu lesen?
Der Schock wich rasendem Zorn. In all dieser Zeit, in all diesen Jahren hatte er immer nur so getan, als hätte er sich ihr Werk angesehen. Es war alles gelogen.
Sie wollte ihm das auf den Kopf zu sagen. Sie hätte das gleich tun sollen, aber sie war zu benommen gewesen. Als sie da gestanden, ihm ins Gesicht geblickt und die schreckliche Wahrheit begriffen hatte, war sie wie betäubt gewesen. Erst lange Zeit nachdem sie das Gebäude verlassen hatte, war diese Benommenheit langsam von ihr abgefallen, und jetzt war es zu spät.
Nein, das war es nicht. Sie blieb an der Ecke High Holborn Street stehen, drehte sich um und marschierte zurück in Richtung Bouverie Street. Sie würde es tun. Sie würde ihm seine Lüge ins Gesicht schleudern und ihm sagen, was sie von seiner Falschheit hielt.
In dem Moment, als sie sich diese Szene ausmalte, erkannte sie, wie dumm das war. Er würde sie entlassen. Jeder Arbeitgeber würde das nach einem so unverschämten Verhalten tun. Das war es nicht wert. Emma blieb erneut stehen, was ihr einen empörten Ausruf eines jungen Mannes eintrug, der genau hinter ihr gelaufen war. Ihr Atem ging schwer. Nein, sie konnte Marlowe nicht zur Rede stellen. So befriedigend eine Konfrontation auch für den Moment sein mochte, aber sie konnte es sich nicht leisten, ihre Arbeitsstelle aufs Spiel zu setzen.
Emma schlug mit der Faust in die Innenfläche ihrer anderen Hand. Sie war wütend, weiß Gott, und sie brauchte etwas, womit sie sich beruhigen konnte. Sie wollte schreien, weinen, mit
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