Ich muss Sie küssen, Miss Dove
Er stand am Haupteingang des Gebäudes, als Harry eintraf, und sein Gesichtsausdruck verriet, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
„Großer Gott, Tremayne, was ist geschehen? Sie sehen ja ganz elend aus!"
„Ich habe Miss Doves Ablaufplan für heute nicht."
„Hat sie ihn denn noch nicht heruntergeschickt?", fragte Harry überrascht, als er die Eingangshalle durchquerte, vorbei an der Nachrichtenredaktion, wo die Angestellten bereits fleißig tippten, und die Treppe nach oben ansteuerte.
Der andere Mann folgte ihm. „Miss Dove ist nicht da."
„Wie bitte?" Harry hielt mitten auf der Treppe inne und zog seine Taschenuhr hervor. „Das kann nicht sein. Es ist halb elf. Miss Dove ist bestimmt irgendwo im Haus."
„Mr. Marsden — er sitzt an der Rezeption, wissen Sie ..." Tremayne zeigte auf Marsdens Schreibtisch in der Nähe des Haupteingangs. „Er sagt, Miss Dove sei heute gar nicht zur Arbeit erschienen."
„Er war wahrscheinlich einen Moment lang nicht da und hat sie verpasst, als sie kam, das ist alles." Unbesorgt steckte Harry seine Uhr wieder ein und ging weiter die Treppe hinauf.
„Ja, Mylord", erwiderte Tremayne und folgte ihm bis in den dritten Stock. „Das habe ich auch erst gedacht. Ich habe einen Angestellten losgeschickt, einmal nachzusehen, doch als Carter Ihre Räumlichkeiten erreichte, stellte er fest, dass Miss Doves Hut und ihr Schirm nicht am Kleiderständer vor Ihrem Büro hingen. Wir haben alles abgesucht, aber sie ist nicht im Gebäude. Vielleicht ist sie krank."
„Miss Dove ist nie krank. Das ist eine wissenschaftliche Tatsache, Tremayne, genauso wie die Schwerkraft oder der Sonnenaufgang.”
„Sie verspätet sich aber nie, Mylord, und doch ist sie nicht hier und ich habe keinen Ablaufplan."
Die beiden Männer betraten Harrys Büroflucht und blieben im Vorzimmer neben Miss Doves Schreibtisch stehen. Harry stellte fest, dass die Tischplatte vollkommen leergeräumt war, bis auf das Tintenfass und den Löscher, die beide ordentlich nebeneinander standen. Miss Doves Schreibmaschine war noch mit der Lederhaube abgedeckt, und der Kleiderständer war leer.
„Sehen Sie, Mylord?" Tremayne breitete die Arme aus. „Sie scheint überhaupt nicht hier gewesen zu sein."
„Nun, lassen Sie Marsden bei ihr anrufen und sie fragen, warum sie nicht gekommen ist."
„Ich glaube nicht, dass Miss Dove Telefon hat", wandte Tremayne zweifelnd ein. „Und falls doch, haben wir keine Telefonnummer, die wir der Vermittlung nennen könnten." Er hüstelte. „Mylord, was sollen wir tun? Ich muss diesen Plan unbedingt haben."
Ehe Harry sich des Problems annehmen konnte, ging die Tür auf und Mr. Finch, der Leiter der Bücherredaktion, trat ein. „Mylord, Mr. Tremayne", begrüßte er die beiden anderen Männer und sah an ihnen vorbei zum Schreibtisch. „Ist Miss Dove gerade unterwegs?"
„Meine Sekretärin ist heute Morgen noch gar nicht erschienen, Mr. Finch", teilte Harry ihm mit.
Mr. Finch sah vollkommen überrascht aus, und Harry konnte das im Moment sehr gut nachvollziehen. „Mylord, Miss Dove ist immer als Erste hier."
„Heute nicht, wie es scheint. Ich nehme an, Sie brauchen auch etwas von ihr?"
„Ja, Mylord, den Bücherplan für nächstes Jahr. Miss Dove bringt ihn jeden Monat auf den neuesten Stand. Sie versteht sich so gut darauf, dafür zu sorgen, dass die Autoren ihre Abgabefristen einhalten, verstehen Sie."
„Benötigen Sie das wirklich, ..." Harry wurde von Mr. Marsden unterbrochen, der soeben zur Tür hereinkam.
„Unten ist ein Bote von Ledbetter & Ghent, Mylord. Er sagt, er soll irgendwelche unterzeichneten Verträge abholen."
„Großer Gott!" Harry sah wieder auf Miss Doves Schreibtisch, aber dort waren keine Papiere. Miss Dove hatte die Verträge am Wochenende durchlesen und sie ihm dann an diesem Morgen zur Unterschrift vorlegen sollen. „Warten Sie hier", meinte er und begab sich in sein eigenes Büro. Tatsächlich entdeckte Harry die Verträge ordentlich auf seinem Schreibtisch aufgestapelt, obenauf befand sich ein an ihn adressierter Umschlag mit Miss Doves Handschrift darauf.
Erleichtert, dass die so wichtigen Verträge aufgetaucht waren, schob er den Umschlag zur Seite und blätterte die Schriftstücke durch. Er unterzeichnete sie an den dafür vorgesehenen Stellen und kehrte ins Vorzimmer zurück. Eine Kopie legte er auf Miss Doves Schreibtisch zur Ablage, das andere Exemplar reichte er Marsden. „Geben Sie das dem Boten von Ledbetter & Ghent", ordnete
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