Ich muss Sie küssen, Miss Dove
Tante Lydia, so befürchtete sie, wäre schwer enttäuscht von ihr gewesen.
10. KAPITEL
Da sie keine Anstandsdame hat, die über sie wacht, muss die Junggesellin selbst auf ein absolut schickliches Verhalten achten, für den Fall, dass ihr ein Gentleman ungebührliche Avancen macht.
Mrs. Bartlebys Ratgeber für Junggesellinnen, 1893
Emma tippte ein Wort auf ihrer Schreibmaschine, dann noch eins, dann zwei weitere. Sie hatte das vage Gefühl, das etwas nicht stimmte, und hörte auf zu schreiben. Sie starrte auf das Blatt vor sich und las laut die letzte Zeile, die sie zu Papier gebracht hatte. „Wenn eine Dame also Küsse benötigt ... "
Aufstöhnend beugte sie sich nach vorn, legte die Stirn auf die Schreibmaschine und biss sich auf die Lippen. Kissenbezüge hätte dort stehen sollen, nicht Küsse. Das war nun schon das fünfte Mal, dass sie sich vertippt hatte. Was um Himmels willen war heute nur mit ihr los?
Doch im Grunde kannte Emma die Antwort bereits. Sie blickte zur Seite aus dem Fenster und stellte sich wieder vor, in den Victoria Embankment Gardens auf dem Rasen zu sitzen und in ein Paar aufreizend blauer Augen zu sehen.
Ich würde Sie sehr gern küssen.
Seit zwei Tagen lenkten sie die Gedanken an diesen Mann von der Arbeit ab. So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte einfach nicht aufhören, an ihn zu denken. Es war zum Verzweifeln.
Sie ermahnte sich, dass sie einen festen Abgabetermin einhalten musste und keine Zeit für Tagträumereien hatte. Entschlossen richtete sie sich wieder auf, zog das Blatt aus der Maschine und legte es auf den kleinen Stapel anderer misslungener Seiten. Sie wollte eben ein neues Blatt einspannen, da hielt sie mitten in der Bewegung inne, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und legte das Kinn auf ihre Hände. Sie schloss die Augen.
Kommen Sie schon, Emma, schmeicheln Sie mir ein wenig.
Das war wieder das warme Gefühl, als würde sie schmelzen, und es durchströmte sie genauso köstlich wie vor zwei Tagen. Sie sah ihn vor sich sitzen mit diesem spöttischen, zweifelnden Gesichtsausdruck, so tuend, als glaubte er ihr nicht; so tuend, als überraschten ihn ihre Komplimente, obwohl er ganz genau wusste, was für einen atemberaubenden Charme er besaß.
Wie hat er das nur geschafft, fragte sie sich. Wie hat er es geschafft, harmlose Worte so ungeheuerlich klingen zu lassen? Das war wahrscheinlich ein Talent, das jeder tugendhaften Frau äußerst gefährlich werden konnte. Vor allem ihr.
Soll das eine Herausforderung sein, Emma? Fordern Sie mich heraus, Sie zu küssen?
Der Mann war so unverschämt. Als ob sie ihn herausfordern würde, sie zu küssen. Sie mochte ihn ja nicht einmal. Nachdem sie sich diszipliniert alle Gründe in Erinnerung gerufen hatte, warum sie eine Abneigung gegen ihn hegte, legte sie die Finger an die Lippen und sann darüber nach, wie es sich wohl anfühlen würde, seinen Mund auf ihrem zu spüren.
Die Uhr auf dem Kaminsims schlug und Emma schreckte schuldbewusst aus ihren Tagträumen auf: Entsetzt stellte sie fest, dass es schon halb drei war. Wo war die Zeit bloß geblieben? In einer halben Stunde hatte sie eine Verabredung.
Emma sprang auf und hastete in ihr Schlafzimmer. Dabei stolperte sie über den armen Mr. Pigeon, der beleidigt miaute. „Tut mir leid, Pigeon", rief sie ihm über die Schulter hinweg zu. Rasch zog sie eine frische Bluse an, aber alle Eile nutzte nichts, da sie sich zweimal verknöpfte und wieder von vorn anfangen musste. Sie entschied sich für ihr grünes Nachmittagskostüm, setzte einen kleinen Strohhut auf und verstaute ihr Notizbuch und einen Stift in ihrem Retikül. Während sie zur Tür lief, zog sie die Handschuhe an und rannte dann die Treppe hinunter.
Atemlos verließ sie das Haus und ging so schnell, wie es sich für eine Dame gerade noch schickte. Sie fand es furchtbar, zu spät zu kommen.
„Emma?"
Emma blickte zur Seite, und dort stieg, mit einer Zeitung in der Hand, der Grund für ihre Eile aus einer Kutsche; der Mann, der sie seit zwei Tagen in ihren Gedanken verfolgte. Es war ihr bewusst, dass sie unmöglich so tun könnte, als hätte sie ihn nicht gesehen, also hielt sie inne und wartete. Als er jedoch vor ihr stand, sagte sie: „Guten Tag, Mylord. Verzeihen Sie mir, aber ich kann mich nicht lange aufhalten, ich habe in wenigen Minuten eine Verabredung." Sie setzte sich wieder in Bewegung.
„Ich habe Ihnen etwas mitgebracht." Er lief neben ihr her und wies beim Gehen auf die Zeitung, die er bei
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