Ich muss Sie küssen, Miss Dove
Sie haben behauptet, es spiele keine Rolle, was andere von einem denken", erinnerte sie ihn, legte die Pflaume zurück und hob eine andere prüfend in die Höhe. „Warum sollte es dann für Sie wichtig sein, mich zu beeindrucken?"
Die Frage erstaunte ihn. Er starrte sie an und ihm wollte partout keine schlagfertige Antwort in den Sinn kommen.
„Es ist nämlich nicht so einfach, nicht wahr, Mylord?", murmelte sie und lächelte feinsinnig, während sie eine weitere Pflaume begutachtete. „Manchmal ist das, was andere von uns denken, sehr wohl für uns von Bedeutung, auch wenn es das nicht sein sollte. Deshalb essen junge Damen Hühnchenflügel, und deshalb lege ich Wert auf die Meinung meiner Vermieterin. Zu wissen, wie man sich anständig verhält, ist wichtig. Und deswegen lesen die Leute Mrs. Bartleby."
„Wie raffiniert von Ihnen, meine eigenen Worte jetzt gegen mich zu verwenden."
Sie hielt seinem Blick stand. „Tatsache ist, bis zu einem bestimmten Grad ist es niemandem gleichgültig, was für ein Bild sich andere von einem selbst machen."
„Mir schon", widersprach er. „Jedenfalls gilt das für die meisten Leute. Aber Sie und ich sind ... Freunde." Eine glatte Lüge. Er wollte nicht ihr Freund sein. Er wollte sie küssen, und aus diesem Grund war ihm ihre gute Meinung über ihn wichtig. Dadurch erhöhten sich nämlich seine Chancen.
„Wir sind jetzt also Freunde?", fragte sie leicht belustigt.
„Wenn man einmal außer Acht lässt, dass Sie mich nicht mögen", räumte er ein und bemerkte, wie sie lächelte. „Ich habe aber beschlossen, diese Tatsache zu ignorieren."
Jetzt lachte sie tatsächlich. „Um unserer Freundschaft willen?"
„So ist es."
Sie griff nach der nächsten Pflaume, prüfte sie und legte sie verärgert wieder in den Korb. „Diese Pflaumen sind schrecklich, und das auch noch zu so einem Preis!"
Er warf einen Blick auf das Schild. „Ein Dutzend für einen Sixpence erscheint mir recht angemessen."
„Es ist völlig überteuert. Zu dieser Jahreszeit sollte man drei Pflaumen für einen Penny bekommen."
„Sie sind knauserig, Miss Dove."
Diese Bezeichnung schien ihr nicht zu gefallen, denn sie runzelte die Stirn. „Nein, ich bin nur sparsam", verbesserte sie.
„Wie Sie meinen."
„Außerdem mag ich Pflaumen ohnehin nicht so gern. Die Schalen sind meist ziemlich sauer. Ach, ich wünschte, es wäre August! Dann wären die Pfirsiche reif. Ich liebe Pfirsiche, Sie auch?" Sie hob das Gesicht, schloss die Augen und fuhr sich genüsslich mit der Zungenspitze über die Lippen. „Vor allem, wenn sie ganz süß und saftig sind."
Erotische Bilder zuckten durch seinen Kopf, Bilder von Pfirsichen und einer ganz und gar nackten Miss Dove. Lustgefühle durchströmten ihn, und ehe er es verhindern konnte, war er über alle Maßen erregt.
„Mylord, geht es Ihnen gut?"
„Wie bitte?" Harry schüttelte den Kopf, um sein inneres Gleichgewicht wieder herzustellen, als die Hauptfigur seiner sinnlichen Fantasien ihn besorgt ansah.
„Sie sehen ganz merkwürdig aus. Sind Sie krank?"
„Krank?" So konnte man es auch nennen. „Ganz im Gegenteil", log er. „Ich fühle mich hervorragend, geradezu blendend."
Sie akzeptierte diese Behauptung mit einem Kopfnicken und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Stand zu. Harry nestelte nervös an seinem Hemdkragen und ärgerte sich über sich selbst. Was war nur los mit ihm? Um Himmels willen, er war doch kein Dreizehnjähriger mehr, der seine Erregtheit noch nicht beherrschen konnte. Und ganz sicher war er nicht der Typ Mann, der auf die Meinung einer Frau Wert legte, oder der erotische Träumereien mit geschäftlichen Angelegenheiten vermischte. Außerdem mochte er tugendhafte Frauen ohnehin nicht. Diese Anziehungskraft, die Miss Dove auf einmal auf ihn ausübte, war unerklärlich. Und äußerst unpassend.
Obwohl sich die Situation zwar in gewissen Hinsichten geändert hatte, arbeitete sie immer noch für ihn. Die Umstände, die wie eine Mauer zwischen ihnen gewirkt hatten, waren nach wie vor die gleichen. Und so musste es auch bleiben. Er war ein Gentleman, und ein Gentleman nutzte bei ihm angestellte Frauen nicht aus, schon gar nicht unschuldige ältliche Jungfern. Er musste aufhören, sich lustvollen Vorstellungen von Miss Dove hinzugeben. Unbedingt.
Als sie weiter den Stand entlanggingen, blieb er absichtlich ein Stück zurück, um alle Bilder aus seinem Kopf zu verbannen, in denen er sie mit Früchten fütterte, während sie beide nackt
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