Ich muss Sie küssen, Miss Dove
worden war und sie kläglich versagt hatte. Als sie Marlowe geküsst hatte, war das Einhalten von Grenzen das Letzte gewesen, woran sie gedacht hatte. „Meine Mutter hat sich vor der Ehe mit meinem Vater eingelassen. Und Tante Lydia hat geglaubt, ich wäre wie sie?"
War das der Grund, warum sie sich immer wieder einreden musste, dass das, was Marlowe getan hatte, falsch gewesen war? Weil sie tief im Herzen eine unmoralische Frau war, die nur versuchte, anständig zu sein? „Ich bin kein lustvolles Geschöpf!", entfuhr es ihr. „Ich bin nicht unmoralisch. Hat Tante Lydia mich dafür gehalten?"
Zu Emmas Erstaunen lächelte Mrs. Inkberry. „Ich denke, Ihre Tante meinte damit nur, dass Sie ein großes Bedürfnis nach Romantik und Abenteuer haben, gepaart mit einer angeborenen Neugier. Unter diesen Voraussetzungen ist es nur ganz natürlich, dass Sie sich von Zeit zu Zeit gegen etwas auflehnen."
Unwillkürlich berührte Emma die kleine Narbe auf ihrer Wange. Wenn man sich auflehnte, hatte das immer Folgen, und zwar schmerzhafte. Sie wollte keine Rebellin sein. Sie ließ die Hand sinken und trank einen Schluck Tee.
„Sehen Sie, Emma, aufgrund ihres Naturells hat Ihre Mutter einen Fehler begangen, der sie teuer hätte zu stehen kommen können, wenn Ihr Vater schließlich nicht doch das Richtige getan hätte. Ich fände es schrecklich, wenn ihnen derselbe Fehltritt passieren sollte, und wenn Lydia noch am Leben wäre, sähe sie das bestimmt genauso."
Emma atmete tief durch und beschloss, wieder zur Vernunft zu kommen. Sie sah in die mitfühlenden braunen Augen der älteren Frau. „Ich möchte das Andenken meiner Tante nicht durch mein Handeln entehren", erklärte Emma und fragte sich gleichzeitig, warum sich bei diesen Worten eine Last auf ihre Brust zu legen schien, die so schwer war, dass sie kaum noch atmen konnte.
Sehen Sie hier. Nur hier können Sie die Wahrheit erkennen.
Der Druck lastete genau auf der Stelle, auf die Marlowe seine Hand gelegt hatte, als er diese Worte zu ihr gesprochen hatte. Emma verdrängte den Gedanken daran und zwang sich, weiterzureden. „Ich möchte mich nicht selbst entehren."
Mrs. Inkberry strahlte über ihr ganzes, gutmütiges Gesicht. „Das ist sehr weise von Ihnen, Emma. Sehr weise und vernünftig."
„Ja, ich weiß", erwiderte Emma freudlos.
„Es gibt da einen Trick, wie eine Frau sich verteidigen kann, wenn ein Mann ihr zu nahe kommt. Ein wohlplatzierter Stoß mit dem Knie, ich haben ihn meinen Töchtern auch schon beigebracht. Möchten Sie, dass ich ihn Ihnen auch zeige?"
„Vielen Dank, Mrs. Inkberry, aber das wird nicht nötig sein", wehrte Emma ab und trank ihre Tasse leer.
Es war nicht nötig, weil sie nie wieder zulassen würde, dass Marlowe zudringlich wurde. Ganz gleich, was sie auch dabei empfinden mochte.
Als seine Kutsche davonfuhr, blieb Harry in der Abenddämmerung auf dem Bürgersteig der Little Russell Street stehen. Er trug ein Bücherpaket bei sich, in Papier eingewickelt und mit einem Bindfaden verschnürt.
Er starrte zu Emmas Haus hinüber, überquerte aber die Straße nicht. Durch das Licht im Fenster erkannte er, dass sich mehrere Damen im Empfangssalon aufhielten. Obgleich sich Emma nicht unter ihnen befand, konnte er das Haus nicht betreten, ohne gesehen zu werden. Er blickte hinauf zu den erleuchteten Fenstern von Emmas Wohnung, dann schaute er wieder hinüber zum Salon und überlegte, wie er wohl ins Haus gelangen konnte.
Wenn ihm noch vor wenigen Monaten jemand gesagt hätte, dass er einmal sehnsüchtig vor Miss Emmaline Doves Haus herumschleichen würde, hätte Harry ihn für geisteskrank erklärt. Doch da hatte er auch noch nicht gewusst, wie verführerisch ein zierlicher Rotschopf mit Sommersprossen sein konnte. Er hatte nicht geahnt, wie viel Leidenschaft sich hinter dem reservierten, mädchenhaften Äußeren seiner früheren Sekretärin verbarg, und wie berauschend es war, diese Leidenschaft hervorzulocken. Jetzt wusste er es, und es war eine einzige Qual. Eine süße, schmerzhafte Qual.
Er stellte das Bücherpaket, das er für sie gekauft hatte, neben sich auf den Bürgersteig und lehnte sich an die Backsteinmauer des Gebäudes gegenüber von Emmas Haus. Zum hundertsten Mal in den letzten Stunden dachte er an den Kuss. Er erinnerte sich an jede Einzelheit — an Emmas weichen, nachgiebigen Mund; an das Gefühl ihrer Arme um seinen Nacken, als sie sich an ihn geschmiegt hatte; an die Wärme ihres Körpers, als sie sich so unbeholfen
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