Ich muss Sie küssen, Miss Dove
ihren Wangen und die zärtliche Berührung seiner Lippen - und in ihr erwachte eine nicht gekannte Freude am Leben, eine unbändige, fast schmerzhafte Freude. Es war anders als alles, was sie sich je hätte vorstellen können.
Es fühlte sich an wie - Frühling.
Sie schloss die Augen und mit einem Mal reagierten auch ihre anderen Sinne mit einer Intensität und Klarheit wie nie zuvor. Marlowes männlicher, würziger Duft. Die Schwiele auf seiner Handfläche, die auf Emmas Wange ruhte. Der Geschmack seines Mundes, als er ihre Lippen mit seinen behutsam öffnete. Das Klopfen ihres eigenen Herzens, schnell wie der Flügelschlag eines Vogels, der zum Himmel hochflog.
Wie empfindsam ihre Lippen plötzlich waren, als endeten in ihnen alle Nervenbahnen ihres ganzen Körpers. Ihre Haut schien zu prickeln, als stünde sie unter Strom. Die Haut um ihren Mund fühlte sich wund an, und Emma begriff, dass das auf Marlowes nachwachsenden Bart zurückzuführen war. Wie fremd ein Mann war, und gleichzeitig wie wundervoll. So unbekannt, und doch irgendwie so vertraut.
Emma hob die Hände und legte sie ihm auf die Brust. Die Seidenweste raschelte unter ihren Fingern, und die Muskeln darunter waren fest und warm. Emma ließ die Hände hinauf bis zu Harrys Schultern wandern und nahm zum ersten Mal die Kraft wahr, die von einem männlichen Körper ausging. Und sie erkannte, dass sie in diesem Moment die Macht hatte, sich all diese Kraft zu Willen zu machen. Sie schlang die Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn, um ihm so nahe wie möglich zu sein.
Diese Bewegung schien irgendetwas in ihm zu entfachen. Er stieß ein heiseres Stöhnen aus und legte einen Arm um ihre Taille. Dann hob er sie leicht an auf die Zehenspitzen und presste sie an sich. Er legte die andere Hand in ihren Nacken und küsste Emma fordernder als zuvor, in dem er vorsichtig aber bestimmt mit der Zungenspitze ihre Lippen öffnete. Emma gab einen erstickten Protestlaut von sich, doch schon im nächsten Augenblick berührte sie seine Zunge mit ihrer, und ein jähes Lustgefühl durchzuckte sie. Zum ersten Mal verstand sie wirklich, was Sinnlichkeit bedeutete.
Sie klammerte sich an ihn mit einer Hemmungslosigkeit, die sie noch vor Kurzem schockiert hätte. Doch die Empfindungen, die sie jetzt durchströmten, waren so überwältigend und so atemberaubend, dass Emma sich über so etwas jetzt nicht den Kopf zerbrechen konnte. Sie spürte seinen muskulösen Körper hart und kräftig an ihrem, und doch kam es ihr so vor, als wäre sie ihm immer noch nicht nahe genug. Sie sehnte sich nach mehr, nach irgendetwas, das sie nicht benennen konnte. Sie seufzte leise auf.
Und dann war es vorbei.
Er griff nach ihren Armen, und schob Emma ein Stück von sich. Er atmete schwer, und seine Augen leuchteten so blau wie das Meer. Er streichelte mit den Fingern über ihre Arme und nahm schließlich ihr Gesicht in seine großen Hände. „Du bist noch nie geküsst worden, nicht wahr?", flüsterte er.
Wortlos schüttelte sie den Kopf.
Als er zu lächeln anfing, erstarrte sie. Lachte er sie aus? Hatte sie etwas falsch gemacht? Plötzlich fühlte sie sich unbeholfen, verlegen und ängstlich.
„Das hättest du nicht tun dürfen", gab sie leise zurück und ging ohne darüber nachzudenken auf sein Du ein.
„Wahrscheinlich nicht." Harry zog sie wieder an sich und küsste sie noch einmal schnell und leidenschaftlich. „Aber ich mache oft Dinge, die ich nicht darf. In der Hinsicht bin ich ziemlich ungezogen." Mit diesen Worten ließ er Emma los, drehte sich um und verschwand hinter der anderen Seite des Bücherregals. Sie hörte seine sich entfernenden Schritte, folgte ihm jedoch nicht. Sie war noch nicht dazu in der Lage. Stattdessen blieb sie einfach stehen, mit zerknitterter Kleidung und verrutschtem Hut, im hintersten Raum einer Buchhandlung in der Bouverie Street, und war zu benommen, um sich bewegen zu können.
Sie presste die Finger an die Lippen. Sie waren leicht geschwollen und wund von Marlowes Bart. Jetzt wusste sie, wie es war, geküsst zu werden. Und sie wusste, dass von nun an nichts mehr so sein würde, wie es früher gewesen war.
Emma hatte das unsinnige Bedürfnis zu weinen, aber nicht vor Scham und Schuldgefühlen, die eine anständige Frau empfunden hätte. Dieser Kuss war das Schönste, was ihr je widerfahren war, und sie hätte am liebsten vor Freude geweint.
14. KAPITEL
Die Tugend einer Frau ist ein zerbrechliches Gut und muss mit äußerster Wachsamkeit
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