Ich muss Sie küssen, Miss Dove
fünfzehnjähriges Mädchen waren, und ich wage zu behaupten, dass Lydia mich jetzt ganz gewiss darum bitten würde, Sie wieder auf den rechten Weg zurückzuführen, wenn Sie einmal davon abkommen sollten. Mir ist natürlich klar, dass Sie kein junges Mädchen mehr sind, sondern eine reife Frau ..."
Wenn ich eine reife Frau bin, dann behandeln Sie mich nicht wie ein Kind. Hören Sie auf, mich zu bemuttern. Die Worte kamen aus dem Nichts, verärgert und trotzig. Emma biss sich auf die Lippen und sprach sie nicht aus.
„Da Sie nicht verheiratet sind, haben Sie natürlich auch keine Ahnung, wie Männer sein können. Wie roh sie vorgehen, wenn sie nicht wahre Gentlemen sind."
„So etwas ist noch nie zuvor geschehen!", rief Emma aus. „Er hat nie ..." Sie verstummte, weil ihr jener Tag im Au Chocolat einfiel. „Er ist niemals roh gewesen."
„Es freut mich zu hören, dass das, was ich mitangesehen habe, das einzige Unschickliche war, das er begangen hat", erwiderte Mrs. Inkberry, und Emma wand sich innerlich. „Dennoch, meine Liebe, obliegt es mir, Sie an Lydias Stelle zu warnen. Männer, ganz gleich wie sie auch auftreten mögen, können Frauen auf Irrwege führen."
Wie war es möglich, dass etwas so Schönes wie dieser Kuss falsch sein konnte? Emmas Trotz regte sich erneut, heftiger dieses Mal. „Ist es denn so furchtbar, von einem Mann geküsst zu werden?"
„Das kann es sein, ja", antwortete Mrs. Inkberry freundlich. „Wenn der Mann nicht Ihr Ehemann oder wenigstens Ihr Verlobter ist. Hat Ihnen dieser Herr einen Heiratsantrag gemacht?"
Emma starrte auf ihre im Schoß verschränkten Hände. „Nein."
„Glauben Sie, dass er Ihnen auf ehrbare Weise den Hof machen und Sie später ehelichen wird?"
Emma dachte an die Scharen von Frauen, denen Marlowe in den Jahren, die sie bei ihm als Sekretärin angestellt gewesen war, den Laufpass gegeben hatte. Frauen, die ihm nie wichtig gewesen waren und an die er keinen Gedanken mehr verschwendet hatte, sobald sie fort gewesen waren. „Nein."
„Ein Mann, der versucht, eine Dame in einer Buchhandlung zu verführen, aber dennoch nicht entschlossen ist, ihr den Hof zu machen, ihre Familie und ihre Bekannten kennenzulernen und ihr einen Heiratsantrag zu machen, ist kein Gentleman. Das wissen Sie genauso gut wie ich, Emma. Sie sind dazu erzogen worden, zu wissen, was anständig ist und was nicht."
„Dieser Kuss hat sich aber nicht falsch angefühlt", beharrte Emma.
Mrs. Inkberry seufzte. „Lydia hat immer schon gesagt, dass Sie Ihrer Mutter sehr ähnlich sind.
Erstaunt wandte Emma sich der anderen Frau zu und blickte sie betroffen an. „Tante Lydia hat Ihnen von meinen Eltern erzählt?"
„Dass sie heiraten mussten, meinen Sie? Ja, das hat sie mir erzählt."
Mrs. Inkberry schien Emma die Bestürzung anzusehen, denn sie tätschelte tröstend ihren Arm. „Aber, aber", murmelte sie. „Ihr Vater hat Ihre Mutter ja schließlich doch zu einer ehrbaren Frau gemacht."
„Aber sie sagte Ihnen, meine Eltern hätten heiraten müssen . Wenn sie es nicht getan hätten, wäre ich ... wäre ich unehelich geboren worden." Emmas Entsetzen wurde immer größer. „Wen hat Tante Lydia sonst noch eingeweiht? Weiß Mrs. Morris Bescheid?"
„Niemand sonst weiß es, Emma, nicht einmal Mr. Inkberry. Ich habe Lydias Vertrauen jetzt viele Jahre lang nicht enttäuscht und dieses Geheimnis für mich behalten. Lydia fühlte sich sehr für Sie verantwortlich. Sie trug schwer an dieser Aufgabe und hatte manchmal das Bedürfnis, sich bei mir auszusprechen und meinen Rat einzuholen. Sie wissen, sie und Mr. Worthington hatten keine Kinder, ich hingegen habe vier Töchter großgezogen. Bitte seien Sie nicht böse, dass sie es mir erzählt hat."
Emma schüttelte den Kopf. Ihre Tante beschäftigte sie viel mehr als die Tatsache, dass Mrs. Inkberry von den Umständen von Emmas Geburt wusste. „Meine Tante hat mir immer gesagt, dass es Aufgabe der Frauen sei, dafür zu sorgen, die Grenzen der Sittsamkeit einzuhalten, da Männer so etwas nicht tun würden. Glauben Sie, dass das wahr ist?"
„Ja, natürlich müssen die Frauen dafür sorgen, das gewisse Grenzen nicht überschritten werden. Auf die Männer kann man sich in Bezug auf Zurückhaltung nicht verlassen. Sie haben gewisse ... animalische Triebe, die uns Frauen abgehen."
Emma bekam allmählich das Gefühl, dass sie eine Ausnahme von dieser Theorie sein musste, nachdem ihre eigene Fähigkeit zur Zurückhaltung auf die Probe gestellt
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