Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
begegneten, sahen in ihm einen verschroben-höflichen Sonderling: linkisch, seltsam, unterwürfig, verschlossen, unnahbar. Ein Nischenmensch. Aber harmlos. Niemand ahnte oder vermutete etwas anderes. So bereitete es ihm keinerlei Schwierigkeiten, sich immer wieder schlangengleich durch das allzu löchrige Netz der sozialen Selbstkontrolle zu winden.
Doch auch Menschen, die ihn näher kannten, blieben die Abgründe seiner Seele, seine Abartigkeit gänzlich verborgen. Helga Hansen mochte ihn gut leiden, sie schätzte an ihm besonders, dass er so kinderlieb war. Ihr Mann hielt ihn sogar für seinen Kumpel, dem er vertrauen konnte. Keiner spürte den Hass, der tief in ihm grollte. Niemand ahnte etwas von seiner infantilen Neugier, die ihn fortwährend dazu animierte, Unerträgliches zu denken und Unmenschliches zu tun. Wenn man beiden offenbart hätte, der Freund der Familie trachte danach, ihre Tochter zu töten, zu schlachten und ihr Fleisch zu essen, sie hätten es als makabren Scherz abgetan, mit dem Kopf geschüttelt, gequält gelächelt. Jeder andere vielleicht – aber er nicht. Unbegreiflich. Undenkbar. Unmöglich.
Wochen und Monate beschäftigte ihn der Gedanke, wie er Bianca töten und verstümmeln könnte. Der unbändige Vernichtungswunsch, das Verlangen nach totaler Vereinnahmung dominierten das innere Drehbuch, nach dem der Film in seinem Kopf ablief – eine imaginäre Spielwiese, die unerfülltes und unerfüllbares Verlangen vorstellbar machte. Seine Allmachtsphantasien reichten weit über Aggressivität und Grausamkeit hinaus; sie zielten auf die Beherrschung des anderen, fokussierten ein totales Verfügen über ihn, suggerierten die Aufgabe seiner Eigenständigkeit. Er zelebrierte Gewalt, arrangierte detailversessen den Tötungsakt, die Schlachtung, das Festmahl.
In seiner Vorstellungswelt existierten keine Hemmnisse, er musste kein Risiko eingehen. Denn in seinen Tagträumen hatte Bianca keine Eltern, die ihn verdächtigen konnten. Da war niemand, der unangenehme Fragen stellte. Es gab lediglich sie beide – und am Ende nur noch ihn. Alles fügte sich. Wunschgemäß.
Allerdings genügte ihm irgendwann das imaginäre Niedermetzeln und Dahinschlachten nicht mehr. Das gedankliche Durchfiebern dieses Blutrausches hatte seinen seelischen und sexuellen Reiz überwiegend eingebüßt. Nach der x-ten Wiederholung war es langweilig geworden. Ihm fiel nicht mehr viel ein. Er war emotional abgestumpft, nicht mehr empfänglich. Dafür lechzte er umso mehr nach einem Opfer, dessen Schreie er tatsächlich hören, dessen Schmerz er fühlen, dessen Körper er zerschnippeln, dessen Fleisch er essen konnte. BIANCA!
Der 26. September 1971 war ein milder Herbsttag. Mit Regen war nicht zu rechnen. Darum fuhr er mit dem Moped zur Arbeit. Als er von der Frühschicht gegen 14.45 Uhr nach Hause kam, wärmte er sich den Rest Ravioli auf, der vom Vortag übrig geblieben war. Dann legte er sich hin und schlief ein.
Um kurz vor 16 Uhr wachte er auf. Schweißgebadet. Es verging eine Weile, bis er begriff, dass er in seinem Bett lag. Er hatte von Bianca geträumt. Allerdings war alles schief gegangen. Bianca hatte es ihren Eltern erzählt, und die hatten ihn nicht nur zur Rede gestellt, sondern obendrein noch bei der Polizei verpfiffen. Wenig später war er von zwei Beamten in Uniform abgeholt worden, die ihn dann stundenlang angebrüllt hatten. Als er das Gefühl bekommen hatte, keine Luft mehr zu bekommen, war er hochgeschreckt. Seine Phantasie konnte er beliebig manipulieren, Albträumen war er schutzlos ausgeliefert.
Mit einem Waschlappen rieb er sich den Schweiß vom Körper. Er benötigte etwa eine halbe Stunde, um sich zu erholen und neuen Mut zu fassen. Für den Abend hatte er sich nämlich etwas ganz Besonderes vorgenommen. Biancas Eltern waren zum Kegeln verabredet, und er sollte auf das Kind aufpassen. Lange Zeit hatte er keine rechte Vorstellung entwickeln können, wie er es am besten anstellen sollte. Zunächst hatte er überlegt, mit Bianca ins Wohnheim zu fahren und sie in seinem Zimmer zu töten und zu schlachten. Aber es wäre zu riskant gewesen. Mitbewohner hätten ihn mit dem Mädchen beobachten können. Wenn er das Kind in der Wohnung seiner Eltern umbringen wollte, musste er Biancas Verschwinden plausibel und glaubhaft erklären können. Und genau für diesen Fall hatte er jetzt einen Plan entwickelt, wie er ungeschoren davonkommen könnte. Nur noch zwei Stunden – dann würde er sich nicht mehr
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