Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
aufhalten lassen.
Um 17.15 Uhr verließ er sein Zimmer und fuhr mit dem Moped nach Duisburg-Hamborn. Eine halbe Stunde später stellte er die Kreidler-Florett in der Lesssingstraße 71 vor dem ockerfarbenen Hochhaus ab, in dem die Hansens wohnten. Er nahm den Aufzug. Ihm war die Sache nicht ganz geheuer. Bisher hatte er seine Opfer immer überfallen, meistens im Wald. Darin hatte er reichlich Routine. Doch die für heute geplante Untat war Neuland für ihn. Er würde danach nicht einfach abhauen können, er würde Fragen beantworten, sich erklären müssen. Das verunsicherte ihn. Aber es gab jetzt kein Zurück mehr. Zu lange schon hatte er auf den höchsten Genuss, die tiefste Befriedigung verzichten müssen. Nochmals ging er seinen Plan durch. Nach wie vor konnte er keinen Fehler entdecken. Es musste klappen. Im siebten Stock stieg er aus.
»Wir haben schon auf dich gewartet!«
»Tut mir Leid, is’n bisschen später geworden. Hab’ verpennt.«
Rolf Hansen schwächte ab: »Is’ schon gut, war nicht so gemeint.«
Er lugte in die Küche, ins Wohnzimmer. Das obligatorische Geschenk hielt er in der rechten Hand, eine Tafel Schokolade. »Wo is’ se denn?«
»Helga?«
»Nee, die Kleine.«
»In ihrem Zimmer. Hat bestimmt das Schellen nicht gehört.«
Er ging durch den Flur und öffnete leise die Tür zum Kinderzimmer. Bianca frisierte zwei ihrer Puppen und bemerkte nicht, wie er sie mit seinen dunklen Augen anstarrte. Unablässig. Gedankenverloren.
Rolf Hansen schlug seinem Freund auf die Schulter. »Junge, ich muss los. Helga lässt dich schön grüßen, ich hole sie beim Friseur ab.« Rolf Hansen nahm seine Tochter in die Arme und küsste sie auf die Stirn. »Und du bist schön artig!« Bianca nickte eifrig. Dann machte er sich auf den Weg.
Bianca sah die Tafel Schokolade. »Die ist bestimmt für mich.«
Er gab sie ihr. Sofort riss sie das Papier auf und stopfte sich einen Riegel in den Mund. Für Bianca war alles wie immer. Sie war viel zu aufgekratzt und viel zu beschäftigt, um die Veränderung an ihm zu bemerken. Immer noch stand er in der Tür zum Kinderzimmer. Dann ging er auf Bianca zu und legte seine Hände auf ihre Schultern.
34
12. November 1971. Schwurgerichtssaal des Düsseldorfer Landgerichts. Urteilsverkündung. Dicht gedrängt saßen überwiegend junge Menschen im Zuhörerraum, um die letzte Phase des Prozesses gegen Roland Schnorrenberger mitzuerleben. Nur hier und dort wurde leise getuschelt, die Spannung war mit Händen zu greifen. Alle Augen lasteten auf Schnorrenberger, der scheinbar ungerührt auf der unbequemen Anklagebank saß. Der 22-Jährige hatte sich herausgeputzt: dunkler Anzug, weißes Hemd, blau-schwarz gepunktete Krawatte, die dunkelbraunen Haare akkurat nach links gescheitelt. Sieht so ein Mörder aus? Kaum jemand wollte eine Prognose wagen. Einem Journalisten gegenüber versicherte Schnorrenberger abermals mit ruhiger Stimme: »Ich kann nur sagen, was ich von Anfang an gesagt habe, ich habe mit der Sache absolut nichts zu tun, ich bin unschuldig!«
Neun Verhandlungstage hatten stattgefunden, 58 Zeugen und fünf Sachverständige waren gehört worden. Die Staatsanwaltschaft hatte »Lebenslänglich« gefordert, die Verteidigung »Freispruch«.
Pünktlich um 14 Uhr wurde die Tür des richterlichen Beratungszimmers geöffnet. Mit einem Mal wurde es still. Alle Anwesenden erhoben sich. Die Spannung erreichte ihren Siedepunkt. Dann verkündete der Vorsitzende das Urteil: »Im Namen des Volkes. Der Angeklagte Roland Schnorrenberger wird mangels Beweises vom Vorwurf des Mordes an Julia Römkens freigesprochen.«
Ein Raunen ging durch den Saal, in der ersten Reihe umarmten sich die Eltern des Angeklagten. Georg und Elke Römkens hingegen konnten es nicht fassen. Wieder tat sich vor ihnen ein dunkler Abgrund auf, der sie zu verschlingen drohte. Der grausame Mord an ihrer Tochter sollte ungesühnt bleiben. Schlagartig wurde ihnen bewusst, dass die seelischen Qualen kein Ende nehmen würden, solange sie keinen Schlussstrich ziehen konnten.
Roland Schnorrenberger nahm das Urteil ohne erkennbare Regung auf. Er ließ sich von seinem Anwalt gratulieren und setzte sich wieder hin. Der Staatsanwalt schlug seinen Aktendeckel zu, die anwesenden Kripobeamten steckten entgeistert die Köpfe zusammen und begannen eine lebhafte Diskussion. Damit hatten sie nicht gerechnet.
Wenig später begründete der
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