Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
unerheblich, ob Kroll wegen achtfachen oder elffachen Mordes verurteilt werden würde. Der zu erwartende Richterspruch hätte nur lauten können: Lebenslänglich. Dass man sich dabei aber auch ein gutes Stück von der Wahrheit entfernte, ist eine ganz andere Geschichte.
Dietrich Lazarz, Krolls Verteidiger, vermutete hinter der Strategie der Staatsanwaltschaft indes andere Gründe und kommentierte bissig: »Wenn schon drei Fälle weggelassen werden, stimmt bei den anderen vielleicht auch etwas nicht.« Überdies kündigte der 55-Jährige vollmundig an: »In der Hauptverhandlung werden wir alle Ungereimtheiten ans Licht bringen. Mein Mandant hat nur Dinge gesagt, die ihm in den Mund gelegt worden sind. Er wollte den freundlichen Herren von der Kripo nur einen Gefallen tun.« Allerdings musste Lazarz auch einräumen: »Der Fall Tanja Bracht ist klar.«
Der 9. Strafkammer des Duisburger Landgerichts stand ein juristischer Kraftakt bevor. Allen Beteiligten war klar, dass es nicht leicht werden würde, durch das Gestrüpp von Geständnissen und Widerrufen, objektiven und subjektiven Eindrücken und Wahrnehmungen, Wahrheit und Dichtung zu finden. Drei Berufsrichter und zwei Hausfrauen als Schöffinnen hatten diese nervenaufreibende und strapaziöse Mammutaufgabe zu bewältigen. 68 Zeugen und 13 Sachverständige sollten dabei helfen.
Um den sensiblen und kreislaufkranken Angeklagten und dessen »geistiges Fassungsvermögen« nicht zu überfordern, wollte das Gericht nur an zwei Tagen in der Woche vor- und nachmittags nicht länger als zwei Stunden verhandeln. Der Prozessbeginn war für Anfang Oktober 1979 terminiert worden, das Verfahren sollte nicht länger als fünf Monate dauern. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass alles ganz anders kommen sollte.
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Duisburg, Donnerstagmorgen, 4. Oktober 1979. Landgericht, Saal 201. Über 120 Zuschauer drängten sich im überfüllten holzgetäfelten Schwurgerichtssaal. Kurz vor Beginn der Verhandlung »Strafsache 14 Js 529/76« waberte eine Frage durch die Reihen, die fast alle Anwesenden beschäftigte und geklärt werden musste: Wie sah wohl ein Mensch aus, der laut Anklage acht Menschen »zur Befriedigung des Geschlechtstriebs« ermordet hatte? Und der obendrein an seinem letzten Opfer zum »Kannibalen« geworden war. Nicht wenige erwarteten den Einmarsch eines »Monsters«, das als solches auch zu erkennen war. Woran genau, wusste niemand zu sagen. Man würde es dann schon sehen.
Um kurz nach 9 Uhr erstarb das Raunen des Publikums, als die Tür geöffnet wurde, durch die der »Menschenfresser von Duisburg« vorgeführt werden sollte. Das Horrorkabinett konnte endlich eröffnet werden. Zwei Justizbeamte dirigierten Joachim Kroll in die Anklagebank. Die helfenden Hände der Wachtmeister hatte der jetzt 46-Jährige auch nötig. Kroll hatte sich zum Schutz vor allzu neugierigen Teleobjektiven und Fernsehkameras die viel zu große Jacke seines beigefarbenen Anzugs über den Kopf und vor das Gesicht gezogen. Nur ein kleines Stück seiner Halbglatze lugte aus dem Ausschnitt. Ein beeindruckendes Blitzlichtgewitter brach über ihn herein. »Bevor nicht die Kameras verschwunden sind«, versuchte Dietrich Lazarz, einer der mittlerweile zwei Kroll-Anwälte, die Journalisten abzuwehren, »wird Herr Kroll sich nicht entblößen.« In seiner Zelle hatte er sich für seinen großen Auftritt eigens eine rote Kapuze mit Sehschlitzen genäht. Bei einer Durchsuchung kurz vor Beginn der Verhandlung war sie ihm aber abgenommen worden. Die Maskerade hatte also wenig mit Scheu und Scham zu tun, aber viel mit Bargeld – die Rechte an seinem Bild waren nur gegen fünfstellige Summen zu kaufen. Kroll hatte nämlich im Laufe der Jahre mitbekommen, dass ein »Jahrhundert-Verbrecher« wie er sich prima vermarkten ließ. Und diesen Superlativ verschacherte er nun mit der Schläue eines orientalischen Teppichhändlers.
Dennoch: Kroll zitterte am ganzen Leib, er war völlig verschreckt. Lampenfieber. Der erste öffentliche Auftritt seines Lebens. Und Kroll musste die unbequeme und ungeliebte Hauptrolle spielen. Gegeben wurde das Drama »Die Bestie vom Rhein«.
»Der Mistkerl soll sich zeigen«, »Runter mit der Jacke, zeig dein Gesicht, du Mörderschwein«, forderten einige enttäuschte und erhitzte Gemüter. Die Volksseele kochte, eine Welle der unverhohlenen Feindseligkeit bahnte sich ihren Weg bis zur
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