Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
abschirmen. Auch den Hofgang machte er allein. Andere Gefangene beschimpften ihn als ›Kindermörder‹, ›Blutschwein‹ und ›Mordbestie‹ und drohten ihm: ›Wir machen Hackfleisch aus dir!‹«
Nachdem Kroll die Tötung Tanja Brachts zunächst gestanden und dann zweimal bestritten hatte, änderte er seine diffuse Taktik ein weiteres Mal. Am 31. Januar 1978 wurde er vom Sexualwissenschaftler und Psychiater Professor Eberhard Schorsch eingehend untersucht. Professor Schorsch leitete die Abteilung für Sexualforschung der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Hamburg. Ihm erklärte Kroll, dass er Tanja nun doch umgebracht habe. Sein erneutes Geständnis war eine nahezu exakte Kopie der Aussagen, die er bereits kurz nach der Tat bei der Duisburger Kripo gemacht hatte. Nur mit den übrigen Morden wollte er nach wie vor nichts zu schaffen haben: »War ich nich’. Bin unter Druck gesetzt worden.«
Nach knapp zwei Jahren lagen schließlich alle Gutachten vor. Ein Neurologe, ein Radiologe, ein Humangenetiker, zwei Psychologen und drei Psychiater hatten sich ausgiebig mit Kroll befasst, um herauszufinden, ob dieser Mann für seine Untaten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden konnte. Kurzum: Uniform oder Kittel? Knast oder Klapse?
Obwohl die professionellen Abgründe-Ergründer denselben Mann untersucht hatten, lagen der Staatsanwaltschaft Gutachten vor, die unterschiedlicher nicht hätten ausfallen können. Professor Schorsch aus Hamburg hatte bei Kroll zusammenfassend festgestellt: »(…) Angesichts der schwersten Defekte in seiner Persönlichkeitsstruktur nimmt die sexuelle Deviation, die völlig apersonal-destruktiv geprägt ist, einen zentralen Raum ein. Hier findet sich seine eigentliche innere Dynamik. Angesichts der Relation einer ausgedehnten Welt der sexuellen Deviation einerseits und einem hülsenhaften, rudimentären sozialen Ich andererseits ist die Dynamik der Devianz zeitweise und periodisch unwiderstehlich stark gewesen und hat ihn gleichsam überflutet. (…) Insgesamt ist das Maß an Störungsintensität, Pathologie und sexueller Devianz so hoch, dass schwerere Defekte und Störungen kaum noch denkbar erscheinen. Kroll ist deshalb aus seiner Sicht für die von ihm begangenen Straftaten mangels Steuerungsfähigkeit nicht strafrechtlich verantwortlich.« Demnach war Kroll eine »schwerst gestörte Persönlichkeit«, destruktiven Impulsen schutzlos ausgeliefert gewesen und juristisch nicht zu belangen. Ein solcher Befund hätte die unbefristete Einlieferung in ein psychiatrisches Krankenhaus zur Konsequenz gehabt.
Eine gänzlich divergierende Auffassung vertrat hingegen Professor Witter, der Kroll in Homburg/Saar untersucht hatte. Das Urteil des damals als Koryphäe der deutschen Gerichtsmedizin gerühmten Sachverständigen: »(…) Joachim Kroll hat bei allen Tötungsdelikten die Gelegenheit zur Tat raffiniert und planmäßig gesucht, nur die ihm einigermaßen gefahrlos erscheinenden Gelegenheiten genutzt und unter zutreffender situativer Orientierung und Situationsanpassung auf die Verdeckung der vollendeten Tat geachtet. Diese Planmäßigkeit und Zielstrebigkeit bei fortdauernder Realitätserkenntnis vor, bei und nach der Ausführung des jeweiligen Tötungsdeliktes sowie seine jahrzehntelangen erfolgreichen Bemühungen, unentdeckt zu bleiben und nicht gefasst zu werden, sprechen aus psychologisch-psychiatrischer Sicht maßgeblich gegen die Annahme, die Steuerungsfähigkeit Krolls sei zu den Taten völlig aufgehoben oder auch nur erheblich eingeschränkt gewesen. Die bei Kroll vorhandene Persönlichkeitsabnormität allein rechtfertigt weder eine Exkulpation noch eine Dekulpation (= Schuldbefreiung bzw. Schuldminderung, Anm. d. Autors).« Folgerichtig würde ein Schwurgericht »Lebenslänglich« verhängen müssen – wenn es dem Gutachten bedingungslos folgte.
Die Duisburger Staatsanwaltschaft wollte sich keiner der eingeholten Expertenmeinungen anschließen, sondern unterstellte Kroll in ihrer 280 Seiten starken Anklageschrift sibyllinisch »mindestens verminderte Schuldfähigkeit«. Also musste in einer Gerichtsverhandlung über diesen Streitpunkt entschieden werden.
Der »Angeschuldigte« hatte gestanden, seit Anfang 1955 zwölf Menschen erstochen, erwürgt, erdrosselt oder ertränkt zu haben. Allerdings hatte die zum Tatzeitpunkt zehnjährige Christa Enders seine Attacke überlebt, was Kroll verborgen geblieben war. Deshalb wertete die Anklage diesen Fall als
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