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Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Titel: Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Harbort
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andere Erklärung bemüht. Doch es war ihm nichts eingefallen. Nur sein Richter hatte ausreichend Phantasie entwickelt.
    Er saß fest. Nun hatte er auch seine körperliche Freiheit eingebüßt. Zuvor waren die emotionalen und seelischen Hindernisse, die er wie ein scheuendes Springpferd nicht hatte überwinden können, fühlbar gewesen, aber gegenstandslos geblieben. Jetzt beherrschten ihn drohender Stacheldraht, tristes Mauerwerk, kalte Stahltüren.
    Wieder konnte er sich nicht wehren, musste sich beugen, verbiegen, anpassen – bis zur Unkenntlichkeit. Fortan existierte er nur noch als Zahl: »886«, benannt nach seiner Zellen-Nummer. Zwei Monate später bekam er den Zusatz »rechts«, weil in seinem »Haftraum« ein weiterer Gefangener untergebracht worden war, dessen Pritsche links an der Wand stand. So konnten Häftlinge aus derselben Zelle unterschieden werden.
    Er hatte bis dahin einiges mit- und durchgemacht, insbesondere in der entbehrungsreichen Nachkriegszeit. Aber die Bedingungen im Torgauer Knast waren kaum zu ertragen. »Tote Oma« – ein spinatähnliches Gemisch aus wenig Blutwurst und viel Wasser – wurde nur heruntergewürgt, weil etwas anderes nicht zu bekommen war. Mit der genauso häufig ausgeschenkten »Krautsuppe« verhielt es sich ähnlich. Pro Tag erhielt jeder Strafgefangene zwei Blatt Klopapier, die Zahnbürsten wurden nach Gutdünken der Wärter ausgegeben. In den Zellen gab es nichts Persönliches; auch kein Buch, kein Papier, keinen Bleistift. Die verordnete Untätigkeit war eine qualvolle Nebenstrafe.
    Ihm machte das weniger zu schaffen. Er wusste, dass er aus seiner Zelle wieder herauskommen würde, und er vertraute darauf, dass dies nach sechs Monaten tatsächlich der Fall wäre. Auch seine Befürchtungen, die junge Frau aus Zwenkau oder der Autofahrer könnten ihn beschuldigen, verloren allmählich ihren bedrohlichen Charakter. Sie verkümmerten mit der Zeit wie Blumen, die kein Wasser mehr bekamen. Seine Phantasien hingegen begannen zu sprießen. Jeden Tag lag er längere Zeit nahezu regungslos auf seinem Holzbett, den Mund halb geöffnet, die Augen geschlossen, und war nicht mehr ansprechbar.
    Seine Tagträume führten ihn an Orte, die er nicht kannte, die schemenhaft blieben, schattengleich. Wenn er dort angekommen war, spürte er, dass bald etwas passieren würde. Er ging ein paar Schritte, schaute nach links, nach rechts, drehte sich um. Dann setzte er sich auf eine Bank.
    Sekunden später ließ er eine junge Frau vorbeilaufen; jedenfalls kam es ihm so vor, als würde nicht viel Zeit verstreichen. In seinen Träumen hatte er kein exaktes Zeitgefühl. Dort wurde auch nicht gesprochen. Aber alles andere konnte er nach Belieben inszenieren: die Beute, die Jagd, den Kampf, das Erlegen, die Schändung, das Sterben. Jede Vorstellung mündete in einen orkanartigen Triumph, keinem Opfer gelang es, ihm zu entkommen. Undenkbar.
    Am 12. April 1956, fünf Tage vor seinem 24. Geburtstag, wurde »886 rechts« entlassen. Allerdings durfte er seinen Aufenthaltsort immer noch nicht frei wählen. Er wurde zum Volksgut August Bebel geschickt, einem Schweinemastbetrieb in der gut 7000 Einwohner zählenden Gemeinde Leisnig, zentral eingebettet in das Städtedreieck Leipzig – Dresden – Chemnitz. Sein Auftrag: Schweine füttern, Ställe ausmisten.
    Während seines dreizehnmonatigen Aufenthalts in der DDR war er ohne jeden näheren menschlichen Kontakt geblieben. Obwohl er das Alleinsein gewohnt war, konnte er sich mit dem Alleine-gelassen-Werden nach wie vor nicht recht anfreunden – jedenfalls nicht auf Dauer. Er vermisste seine Familie, besonders seine ältere Schwester Elisabeth, die in Hamburg lebte. Zu ihr hatte er stets ein ordentliches Verhältnis gehabt. Er hatte auch nicht vergessen, dass sie es gewesen war, die ihm vor Jahren als Einzige bei den Schulaufgaben geholfen hatte. In seiner Not schrieb er ihr einen Brief; nicht mehr als eine halbe Seite lang – er wusste nicht, worüber er berichten sollte. Aber er bekam Antwort. So erfuhr er, dass seine Brüder wohlauf waren und sein Vater wieder geheiratet hatte.
    Das monotone Schuften in den Schweineställen zermürbte ihn. Der Lebensmut des jungen Mannes, der Renate Göbel umgebracht hatte, war ungebrochen, aber seine Lebensfreude war getrübt. Dass er eigentlich für lange Zeit hinter den hohen Mauern eines Gefängnisses hätte verschwinden müssen, dass ihm die Freiheit geschenkt wurde, obwohl er sie nicht verdient hatte,

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